Kinderschutz nach Kassenlage: Jugendämter sind häufig überfordert


Jugendämter sollen Eltern unterstützen und vor allem Schaden von Kindern abwenden. Das ist jedoch leichter gesagt als getan. Eine Studie zeigt, die Arbeitsbedingungen in Jugendämtern sind so schlecht, dass der Kinderschutz leidet.

Ein Kind stirbt nach Misshandlungen durch die Eltern, ein anderes wird monatelang missbraucht, obwohl das Jugendamt bereits mit dem Fall betraut ist. Bei einem Polizeieinsatz werden Kinder in einer völlig verwahrlosten Wohnung angetroffen. Das alles sind Fälle, die jeden Tag mitten in Deutschland passieren.

Meist wird dann nach der Verantwortlichkeit des zuständigen Jugendamts gefragt. Der Vorwurf lautet, die Fachleute hätten die Notlage der Kinder erkennen und einschreiten müssen. Doch viele Jugendämter in Deutschland können ihren Aufgaben beim Kinderschutz nur unzureichend nachkommen. Das weist die Sozial- und Politikwissenschaftlerin Kathinka Beckmann von der Hochschule Koblenz in einer repräsentativen Studie nach.

Demnach bearbeiten die rund 13.300 Mitarbeiter im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) mehr als eine Million Fälle. Das ergaben Befragungen von rund 650 Fachkräften aus 175 Jugendämtern via Fragebogen. Bundesweit gibt es rund 560 Jugendämter. Die meisten Sozialarbeiter betreuen laut der Studie zwischen 50 und 100 laufende Fälle. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Allgemeiner Sozialer Dienst fordert seit Jahren, dass sich eine Vollzeitkraft zeitgleich um maximal 35 Fälle kümmern soll. Aber nur 68 Prozent der Jugendämter erreichen diesen Schlüssel.

Tausende Fälle

2016 wurden dem Statistischen Bundesamt zufolge rund 22.000 Fälle erfasst, in denen Kinder und Jugendliche von Familienmitgliedern misshandelt wurden. Das können psychische Misshandlungen sein, aber auch körperliche oder sexuelle Übergriffe. Die Art der Verletzungen erschüttert Experten immer wieder. Die Rede ist von Fesselungen, Knochenbrüchen, Verätzungen, Verbrühungen oder Verbrennungen. 143 Kinder starben 2017 nach solchen Vorfällen. Auch wenn die gewaltfreie Erziehung von Kindern seit 18 Jahren im Gesetz steht, ist sie längst noch nicht in allen Familien angekommen.

Allein das wäre ein großes Aufgabenfeld für Jugendämter: überforderte Eltern zu unterstützen. Das Fallaufkommen und die Personalsituation hätten in den vergangenen Jahren aber oftmals nur das Einschreiten im Akutfall erlaubt, sagt die Leiterin des Jugendamts Berlin-Mitte, Monika Goral, bei der Vorstellung der Studie. Nötig sei aber proaktives Handeln, etwa wenn eine Kindes-Gefährdung zunächst unklar ist.

Für die wirkliche Arbeit mit den Familien bleibt auch deshalb so wenig Zeit, weil 63 Prozent der Arbeitszeit in die Dokumentation fließt. Dabei geht es vor allem um die rechtliche Absicherung der ASD-Mitarbeiter. Aber selbst das schaffen viele Sozialarbeiter kaum. 58 Prozent der Befragten brauchen mindestens eine Woche, um die für Fallübergaben und Verfahren wichtigen Gesprächsprotokolle auszufüllen. Nur jeder fünfte kann das noch am gleichen Tag erledigen.

Betriebswirtschaftliche Entscheidungen?

Angesichts dieser Umstände wird schnell der Ruf nach mehr und möglichst gut ausgebildeten Mitarbeitern in den Jugendämtern laut. Aber auch das ist leichter gesagt als getan. Wegen der schon vorhandenen hohen Belastung bleibt kaum Zeit für die Einarbeitung neuer Sozialarbeiter. Beckmann nennt die Einarbeitungssituation „desolat“. Vor allem für Berufsanfänger sei dies jedoch unabdingbar, denn häufig müssten sie innerhalb kurzer Zeit bereits entscheiden, ob ein Kind aus einer Familie genommen werden muss oder sie einen Verbleib verantworten können.

Viele Jugendamtsmitarbeiter können sich ihre Arbeit aus all diesen Gründen dauerhaft nicht vorstellen. Die Fluktuation ist groß, mit jedem Wechsel gehen Erfahrungen verloren, aber auch Wissen über die bearbeiteten Fälle. In nur 20 Prozent der Fälle wechselt die Zuständigkeit für eine Familie nicht. Bei den meisten ist der Wechsel die Regel, mehr als 50 Prozent der Familien werden sogar mehr als einmal „weitergereicht“.

„Die Sozialarbeiter im ASD werden durch die Strukturen behindert, wirklich professionelle pädagogische Arbeit so zu leisten, wie das Kinder- und Jugendhilfegesetz es sich 1991 auf die Fahnen geschrieben hat“, sagt Kathinka Beckmann. Der Vorsitzende des Deutschen Kinderhilfsbundes, Rainer Becker, warnt davor, „sozialpädagogisch gebotene Entscheidungen allein oder vorrangig unter Berücksichtigung betriebswirtschaftlicher Aspekte“ zu treffen.



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