Timm (29) und Janna (33) leiden unter extremer Ausprägung des Borderline-Syndroms. Das ist eine psychische Störung, die in ihrer Kindheit entstanden ist und sie lebenslang belasten wird. Borderliner stehen unter einem enormen Leidensdruck. Um die Spannung abzubauen, verletzen sie sich oft selbst.
„Die ersten Schnitte macht man mit Vorsicht, langsam und mit sanftem Druck zieht man die Klinge über die Haut. Nicht mehr als ein kleines Kribbeln ist dabei zu spüren, die Verletzung ist ein kleiner, oberflächlicher, kaum sichtbarer roter Strich.“ Doch mit jedem Ansetzen werden die Bewegungen schneller und die Wunden größer. „Es gab einen gewissen Punkt, an dem es schön und warm wurde. Alles entspannte sich und ich spürte die Gewissheit, am Leben zu sein, weil ich mich spürte.“ Timm Flemming, Autor des Buches „Ich – mein größter Feind“, hat Borderline. Eine Störung, die seit Mitte der 90er-Jahre immer mehr in den Blickpunkt gerückt ist.
40 Piercings – nur um sich zu spüren
Jeder fünfte Schüler hat Erfahrungen mit Selbstverletzung. „Doch nicht jeder Jugendliche, der sich ritzt, hat Borderline. Manche suchen einfach nur Anerkennung und Aufmerksamkeit, oder versuchen, sich selbst zu bestrafen“, erklärt Bärbel Jung, vom Vorstand des Borderline Dialogs Kassel.
„Diese Kratzerchen sind wirklich lächerlich“, erbost sich Janna Stoll in ihrem Buch „Auf der Spur der Schattenschwester“. „Ich kenne keine Ritzerin, die hinterher herumheult, weil die Schnitte wehtun.“ Umgekehrt verletzt sich aber auch nicht jeder Borderliner selbst, stellt Dian Tara Zinner klar. Die Heilpraktikerin und DBT-Co-Trainerin arbeitet seit fast 20 Jahren an einer Kölner Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie mit Betroffenen. „Borderline hat auch ganz andere Gesichter: Sexsucht, Turnen auf Bahngleisen, Gangbang. Manche schaffen es auch gar nicht, sich selbst zu verletzen und lassen das andere machen. Ich habe eine junge Patientin, die hat über 40 Piercings, 20 davon im Gesicht.“
Verzweifelte Hilfeschreie
Betrachtet man Jannas oder Timms Geschichte, dann verwundert es nicht, dass diese Seelen verzweifelt um Hilfe schreien. Sie wurde viele Jahre körperlich und emotional missbraucht, er mit dem Selbstmord beider Eltern und später noch der kleinen Schwester konfrontiert. Er war noch ein Junge, als sein Vater sich erhängte. Die Mutter konnte ihn nicht auffangen. Die Frau hatte kein Gefühl für das Leid ihrer Kinder, machte sich noch einen Spaß aus ihren Verlustängsten. Nur wenige Wochen später erhängte auch sie sich. Und hinterließ zwei Kinder, die ihren Weg ins Leben nicht fanden. „Ich schrie um Hilfe und zwar so offensichtlich, dass ich nicht verstand, wie es übersehen werden konnte.“
Wie geht es dem inneren Kind?
Viele Borderliner haben Traumata davongetragen. 65 Prozent wurden sexuell missbraucht. Aber auch lange Trennungen von den Bezugspersonen, häufige Umzüge oder Klinikaufenthalte und die damit verbundene Ohnmacht können ein Auslöser sein. Suizidgedanken sind allgegenwärtig. „Doch nicht jeder Mensch, der eine traumatische Erfahrung machen muss, leidet später unter Borderline und auch nicht jeder Borderliner hat fürchterliche Erlebnisse hinter sich“, erklärt Dian Tara Zinner, die derzeit rund 200 Borderliner betreut.
„Es gibt auch Borderliner, die eine gute Kindheit hatten. Aber fast immer steckt eine emotionale Vernachlässigung dahinter. Das Kind fühlt sich zu Hause oder auch im Umfeld nicht gesehen und muss reagieren, um dieses starke negative Gefühl auszuhalten.“ Die kindlichen Anteile sind bei diesen Menschen nicht umsorgt worden, keiner hat sich darum gekümmert. Das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, manifestiert sich früh.
Janna Stoll hatte Glück. In ihrem Buch „Auf der Spur der Schattenschwester“ lässt die junge Frau auch Katja zu Wort kommen. Die Frau, die in ihren schwersten Zeiten immer für sie da war und Janna eine neue Familie gab: „Wie oft habe ich das auch später noch gedacht, wenn ich das kleine Mädchen Janna, das in solchen Momenten nur äußerlich so groß ist wie ich, im Arm hatte. Warum hat sie denn nur nie jemand in den Arm genommen? Es ist doch so einfach.“
Borderline ist keine Modeerscheinung
Borderline ist eine psychische Störung mit hoher Dunkelziffer. Fünf Prozent Betroffene, das ist eine Zahl, die immer wieder im Raum steht bei Jugendlichen. Die Erkrankung so früh bereits zu diagnostizieren ist eine Gratwanderung und ziemlich umstritten unter den Fachleuten. Die Abgrenzung zur Pubertätskrise ist schwierig. Auch erwachsene Borderliner vermitteln häufig das Gefühl, man habe es mit jemandem zu tun, der in der Pubertät oder sogar noch früher „hängengeblieben“ ist.
Borderline ist eine Erkrankung mit vielen Gesichtern. Zwischenmenschliche Beziehungen und das Selbstbild sind von Impulsivität und Instabilität geprägt.
Extreme Idealisierung und Entwertung, autoaggressives Verhalten, das Gefühl man sei so hohl wie ein Schokoosterhase – von neun solcher Kriterien müssen mindestens fünf erfüllt sein und das über ein halbes Jahr – erst dann spricht man von Borderline. „Ich spürte, dass alles seltsam war, was ich da tat. Ich dachte oft, dass ich nicht richtig ticke und langsam durchdrehe“, beschreibt es Timm. „Ich wusste nicht, woher dieses Verlangen kam, aber ich wollte alle Extreme sprengen.“
Genau hinsehen und dem Kind mit respektvoller Neugier begegnen
Ein Gen, das Borderline begünstigen kann, sucht man im Moment noch vergeblich. Man weiß aber inzwischen, dass diese Menschen besonders kreativ sind und sich ihre Gehirne in einem längeren Reifungsprozess befinden. Häufig kommen sie mit einer sehr ausgeprägten Emotionalität auf die Welt. „So ein Kind kann extreme Ereignisse oder auch gefühlte Ablehnung besonders schwer aushalten und entwickelt dann Mechanismen, um den seelischen Schmerz ertragen zu können“, so Jung. „Das hilft ihm, wenn seine Bedürfnisse nicht wahrgenommen werden, psychisch in der Familie zu überleben.
Die Kommunikationstrainerin hat häufig in ihrer Arbeit mit Borderlinern die Erfahrung gemacht, dass Kinder, die über eine so hohe Sensibilität verfügen, sehr herausfordernd wirken, schnell wütend werden und streiten. Ihr Verhalten wird häufig als dem Alter nicht angemessen beschrieben. „Aber da muss man doch genauer hinsehen. Warum reagiert mein Kind so emotional?“
Tabu und Stigma sind groß
Die Diagnose Borderline lastet schwer. Denn irgendwie haftet ihr immer ein schwarzer Familienschatten an. Ein Gefühl von Schuld bei den Eltern. Eines von Hilflosigkeit und Versagen beim Umfeld. Bärbel Jung ist selbst Mutter einer Borderlinerin. Sie weiß von den Sorgen, den Nöten und der Verzweiflung der Eltern, die hilflos sind angesichts der Heftigkeit. Das jüngste Mädchen, das Jung behandelt, ist gerade mal zwölf Jahre alt. „Für die Eltern ist das ein Alptraum, sie fühlen sich ohnmächtig, hilflos, allein gelassen.“ Manche Mütter, so berichtet sie, setzen sich beim Ritzen sogar neben ihr Kind, sehen zu und versuchen so das Schlimmste zu verhindern.
„So werden sie emotional noch erpressbarer. Stigma ist für sie Alltag. Man schämt sich, fragt sich, warum und was man falsch gemacht habe. Oft isolieren sich die Eltern, tragen nichts nach außen, aus Angst, kein Verständnis zu bekommen oder gar verurteilt zu werden. Die meisten suchen Hilfe und bekommen keine.“ Sie beklagt, dass es zu viele Therapeuten gibt, die sich als Anwalt des Betroffenen sehen und die Familie, die ebenfalls Hilfe braucht, dabei außen vor lassen. Genau deswegen arbeiten sowohl sie als auch Dian Tara Zinner immer ganzheitlich. „Je früher wir die Familien auffangen, umso besser die Chancen, gemeinsam einen Weg zu finden.“
Borderline kann therapiert werden
Die Vielfalt des Störungsbildes ist groß. Die Angst davor auch. „Nur etwa 30 Prozent der niedergelassenen Therapeuten ist überhaupt bereit, mit Borderline-Betroffenen zu arbeiten“, erklärt Anja Link vom Borderline Trialog Nürnberg. Borderliner müssen lernen, wieder Kontakt zu sich selbst aufzunehmen. „Körperwahrnehmung und Körpertherapie ist hier das A und O. Eine Therapie sollte intervallmäßig erfolgen, über einen längeren Zeitraum, denn die Betroffenen müssen immer wieder an ihre Themen und an ihre Fähigkeiten erinnert werden“, so Dian Tara Zinner. „Sie müssen lernen, ihre wahren Gefühle zu erkennen. Borderline kann therapiert werden, aber nur, wenn der Patient es auch will!“
Ein Medikament gegen die Störung gibt es nicht und doch werden viele Patienten sediert. „Aber das spaltet die Emotionen ab und genau an die müssen wir ran. Müssen herausfinden: Bist du wütend oder bist du traurig und verzweifelt?“ Denn nur so ist es möglich, mit Borderline zu leben. Zu überleben.
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