Abschied vom Leben hinter Klostermauern

Abschied vom Leben hinter Klostermauern

Man fängt bei null an.“ So beschreibt die 63-jährige Sylvia die Herausforderung, vor die sie jetzt gestellt ist. Nachdem sie 41 Jahre lang in einem Kloster in der Ostschweiz gelebt hatte, wagte sie vor drei Jahren den Schritt in einen völlig anderen Alltag und trat aus dem Orden aus. Die ehemalige Nonne sitzt im Untergeschoss des Pfarrzentrums der katholischen Kirche in Tann, einer ihr vertrauten Umgebung. Zwar ließ sie das Leben im Kloster hinter sich, an ihrem Glauben hat sich jedoch nichts geändert. Seit ihrem Klosteraustritt wohnt Sylvia mit ihrer Schwester in einer Viereinhalbzimmerwohnung in Tann im Zürcher Oberland. Die zierliche in Wald aufgewachsene Frau mit Lachfalten um die braunen Augen trat mit 19 Jahren ins Kloster ein. Sie belegte ein Unterseminar in Chur, machte ein Fernstudium und wurde Lehrerin. Sie unterrichtete unter anderem Musik, Deutsch und Mathematik in der zum Kloster gehörenden Schule und war Leiterin des Mädcheninternats. Mit dem mehr als 100 Sängerinnen zählenden Schülerinnenchor führte sie verschiedene Erstaufführungen von Werken des Schweizer Komponisten Ernst Pfiffner auf.

Zwei Stunden später ist sie gegangen

Nach 40 Jahren engagierten Einsatzes wurde Sylvia krank und konnte nach mehreren Monaten Krankheit ihre früheren Aufgaben im Kloster nicht mehr mit der gleichen Intensität ausüben. Sie musste anderen Nonnen den Platz überlassen. Während eines Gesprächs mit der Äbtissin, bei dem Sylvia zukünftige Tätigkeiten vorgeschlagen wurden, habe sie erkannt, dass auch im Kloster voll leistungsfähige Personen mehr wert sind. Um in der Töpferei zu arbeiten, wollte sie nicht mehr im Kloster leben. Noch während des Gesprächs hat sie ihre Schwester angerufen, um diese zu bitten, sie noch am gleichen Tag abzuholen. Zwei Stunden später hat sie in zivilen Kleidern das Kloster verlassen.

Zum Kloster hat sie heute keinen Kontakt mehr. „Beim Austritt endet die Solidarität der Klostergemeinschaft“, sagt sie nachdenklich. „Es ist wie eine Scheidung, eine Vision geht verloren.“ Da sie auch während des Klosterlebens soziale Kontakte außerhalb des Klosters gepflegt hat, hatte sie Ansprechpersonen, als sie auszog. Sie war auch ab und zu außerhalb des Klosters unterwegs, wodurch ihr der Alltag nicht fremd war. Ihre kurzgeschnittenen Haare und die goldfarbene Brille passen zu ihrer unauffälligen Kleidung: Jeans und eine Bluse. Auch während ihres Klosterlebens war sie nicht nur in einem schwarz-weißen Habit anzutreffen, sondern konnte sich in ihrer freien Zeit zivil kleiden.

Sie kann jederzeit Orgel spielen

Sylvia vermisst den Hund, der im Kloster ihr Begleiter war. Die größte Umstellung erlebt sie jedoch im spirituellen Bereich. Die festen Gebetszeiten, das Gebet und die Meditation in der Gemeinschaft fehlen ihr. „Für das Gebet und die Meditation musste ich einen neuen Rhythmus finden.“ Sie ist mit der katholischen Kirche in Tann vertraut geworden: „In dieser Kirche eine Kerze anzuzünden ist für mich wie heimzukommen.“ Vom Pfarrsaal her dringen Klavierklänge ins Untergeschoss, wo Sylvia auf einer Holzbank sitzt. Auf dem niedrigen Tisch vor ihr liegen schwarze Stofffinken, Pantoffeln, die sie zum Orgelspiel trägt. „Ich kann jederzeit auf der Orgel spielen, die Kirche hat mir einen Schlüssel gegeben“, lächelt die in Luzern ausgebildete Kirchenmusikerin. Obwohl die Vision, bis ans Lebensende im Kloster tätig zu sein, verlorenging, veränderte sich Sylvias Glauben keineswegs. Sie würde auch niemandem von einem Klostereintritt abraten. „Im Kloster konnte ich mich wirklich entfalten und Freiheiten genießen.“

Wie viel Rente sie bekommt, ist nicht klar

In ihrem neuen Alltag erlebt sie auch Probleme. „Finanziell bin ich bis jetzt auf keinen grünen Zweig gekommen.“ Während der drei Jahre, in denen sie ins Kloster hätte zurückkehren können, hat sie Geld vom Kloster bekommen. Da man im Kloster für Kost und Logis arbeitet, hatte Sylvia nämlich keinen Besitz, als sie zu ihrer Schwester zog. Im April dieses Jahres ist diese Zeit der möglichen Umkehr für Sylvia jedoch abgelaufen. Da sie noch nicht 64 ist, erhält sie keine Rente. Wie viel sie später erhalten wird, ist ihr auch noch nicht klar, da es davon abhängt, wie viel das Kloster während ihrer Klosterzeit eingezahlt hat. Um über die Runden zu kommen, musste Sylvia deshalb rasch einen Weg finden, Geld zu verdienen. Durch finanzielle Unterstützung der Kirche in Tann und des Generalvikariats des Kantons Zürich konnte sie eine Klinische Seelsorgeausbildung machen. An verschiedenen Orten arbeitet Sylvia als Aushilfe wie zum Beispiel als Spitalseelsorgerin oder als Organistin, und sie hat eine Festanstellung in Aussicht. Sie hilft bei Chören als Dirigentin aus und leitet einen Chor in Hinwil sowie eine Singgruppe in einem Altersheim. „So geht es einer Nonne, die Jobs sucht“, lacht sie und sagt: „Mir fliegt so vieles zu.“

Das ist ein Stück Freiheit

Sonnenlicht dringt ins Untergeschoss des Pfarrzentrums Tann. Trotz der unsicheren finanziellen Situation steht Sylvia mit beiden Beinen auf dem Boden. „Ich habe Freude an allem, wenn es irgendwie geht.“ In ihrer freien Zeit singt sie im katholischen Kirchenchor sowie im Kammerchor Zürcher Oberland mit und geht gerne allein wandern. Vor kurzer Zeit verbrachte sie eine Woche in den Cinque Terre mit Wandern. Wenn kurz vor einer Vorstellung im Schauspielhaus einzelne Plätze zu vergünstigten Preisen erhältlich sind, fährt sie gerne mit dem Zug die halbe Stunde nach Zürich. „Solche Besuche sind für mich ein Stück Freiheit“, sagt sie fröhlich. Sylvia muss heute immer noch erklären, warum sie ins Kloster eingetreten ist. Ihren Austritt hingegen können viele nachvollziehen. „Ich bereue meinen Eintritt ins Kloster überhaupt nicht. Was ich mache, zu dem stehe ich. Genauso wie zu meinem Austritt.“

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