Arbeitslos, mutlos, kinderlos: Chinas Jugend gibt auf

Der wirtschaftliche Abschwung Chinas hat zu einer historisch hohen Jugendarbeitslosigkeit geführt. Ohne Job und Zukunftsperspektive werden junge Chinesen wieder zu „Full-Time-Children“ zu Hause bei den Eltern. Die Regierung schickt die Jugend zum Arbeiten auf die Dörfer – das soll auch noch ein anderes Problem lösen.

Sie sind jung und gut ausgebildet – aber ohne Perspektive. Lange Arbeitszeiten und ein trostloser Arbeitsmarkt zwingen junge Chinesen dazu, ungewöhnliche Entscheidungen zu treffen.

Viele gehen zurück in ihr Elternhaus und werden „Full-Time-Children“, also „Vollzeit-Kinder“. Sie kaufen ein, kochen, putzen und fahren die Eltern zum Arzt. Dafür bekommen sie eine Art Gehalt. Taschengeld, das so hoch sein kann wie ein Monatslohn in einer großen Stadt.

Die Hashtags #FullTimeDaughter und #FullTimeSon wurden auf chinesischen Social-Media-Plattformen in den vergangenen Monaten millionenfach aufgerufen.

Für sie ist der „Job“ eine Flucht aus ihrem normalen Berufsleben. In wahrscheinlich keinem anderen Land sind so viele Leute ausgebrannt wie in China. Ihre Work-Life-Balance ist schlecht. Arbeitszeiten von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends an sechs Tagen in der Woche sind die Regel.

Chinesen opfern sich für die Arbeit

Die Chinesen haben bisher bereitwillig Freunde und Familie für die Arbeit vernachlässigt, so beschreibt es Xiang Biao, Direktor des Max-Planck-Instituts für Ethnologische Forschung, im ntv-Podcast „Wieder was gelernt“. Ohne diese Selbstverleugnung, wie es der Experte nennt, wäre Chinas Wirtschaft nicht so schnell gewachsen. Die Menschen seien bereit gewesen, ihr „tägliches Glücklichsein“ zu opfern, um mehr und härter zu arbeiten.

Jungen Chinesen wird gesagt, dass sich die harte Arbeit für Studium und Abschlüsse auszahlt. Nach der Hochschule steht aber derzeit jeder Fünfte unter 25 ohne Job da. Die Jugendarbeitslosigkeit ist auf einem Rekordhoch von mittlerweile über 21 Prozent.

Ein Problem, das wir auch in Europa kennen. Portugal hat seit Jahren mit hohen Arbeitslosenzahlen bei Jugendlichen zu kämpfen. In Italien, Schweden, Griechenland und Spanien sind die Zahlen sogar noch höher.

Mehr Absolventen, immer weniger Jobs

Eine große Herausforderung für China, besonders weil die Null-Corona-Politik drei Jahre lang die Wirtschaft extrem stark belastet hat. Die Wirtschaft erholt sich noch langsamer als erwartet von der Pandemie.

Für junge Leute sei die Corona-Krise ein existenzieller Schock gewesen, erzählt Xiang. Die brutalen Corona-Kontrollen der Regierungsbehörden hätten sie traumatisiert – weil sie bisher geglaubt hätten, dass ihr Leben gut wird, wenn sie nur genügend Geld und ihre eigene Wohnung haben – ein“privates Paradies“, in dem sie die Politik vergessen könnten.

Chinas Wirtschaft ist über Jahrzehnte rasant gewachsen. Der Wohlstand ist kontinuierlich gestiegen, immer mehr Familien können sich ein Studium leisten. Mittlerweile fluten aber zu viele Hochschulabsolventen den Arbeitsmarkt. Viele wünschen sich einen Bürojob, gut bezahlt und stabil, davon gibt es aber einfach nicht genug.

Abschied von der Leistungsgesellschaft

„Wieder was gelernt“-Podcast

„Wieder was gelernt“ ist ein Podcast für Neugierige: Warum wäre ein Waffenstillstand für Wladimir Putin vermutlich nur eine Pause? Warum fürchtet die NATO die Suwalki-Lücke? Wieso hat Russland wieder iPhones? Mit welchen kleinen Verhaltensänderungen kann man 15 Prozent Energie sparen? Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein wenig schlauer.

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Junge Chinesen verabschieden sich von der Leistungsgesellschaft. „Tangping“, das „Flachliegen“, hat sich als Trend breitgemacht: Sie arbeiten gar nicht oder nur wenig in regulären Jobs. Die „Vollzeit-Kinder“ sind der nächste Schritt dieser Entwicklung.

Als einen Teufelskreis schätzt der Wirtschaftsprofessor Lu Xi von der National University of Singapore die Lage bei NBC News ein. Durch die „unfreiwillige Entscheidung“ der jungen Leute, gewissermaßen zur Pflegekraft ihrer Eltern zu werden und nicht zu arbeiten, würden die Haushaltseinkommen sinken und in der Folge der Konsum. Dadurch gebe es weniger Arbeitsplätze, das führe zu mehr Erwerbslosigkeit und dadurch zu noch mehr „Vollzeit-Kindern“.

Selbst Kinder zu bekommen, ist für viele keine Option. Die jungen Leute schieben Ehe und Familie auf. Die demografische Krise in China verschärft sich immer weiter.

Manchen bleibt nur die Abwanderung aufs Land: „Es gibt einige kleine Beispiele von jungen Leuten, die zurück aufs Land gezogen sind, um eine Art neues Lebensexperiment zu starten, einen neuen Lebensstil“, berichtet Xiang.

Xi schickt Jugend aufs Land

In den 1980er-Jahren sind die Chinesen massenhaft in die großen Städte geströmt, um dort zu arbeiten. Staatschef Xi Jinping will die Entwicklung nun umdrehen. Letztes Jahr forderte er, Hochschulabsolventen aufs Land zu schicken, um die hohe Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen.

Diese Idee hat tiefe Wurzeln in der Geschichte der Partei: In den 1960er- und 70er-Jahren hat Peking unter Mao Zedong über 16 Millionen Menschen zum Arbeiten in die Dörfer abkommandiert.

Heute gibt es mehrere Freiwilligen-Programme dafür. Die Regierung erhofft sich davon gleich mehrere Effekte: Einerseits Jobs für die vielen jungen Arbeitslosen in den Städten, andererseits die überalterten Dörfer zu verjüngen und zu modernisieren und die Wirtschaft dort voranzubringen.

Angeworben werden die Studierenden direkt an der Universität, berichtet Journalist Brian Spegele im Wall Street Journal-Podcast „The Journal“. In den Rekrutierungsveranstaltungen der Kommunistischen Partei werde über die Vorteile gesprochen, aufs Land zu gehen. Danach gäbe es eine Art Bewerbungsprozess. Die Einsätze seien je nach Provinz unterschiedlich, von einem Wochenende Müllsammeln in einem Dorf bis zu einer engen Zusammenarbeit mit den Bauern über mehrere Jahre.

Hochschulabsolventen mit Niedriglohnjobs

Die bevölkerungsreichste Provinz Guangdong im Südosten Chinas will bis Ende 2025 200.000 junge Menschen aufs Land locken. Bislang haben sich aber erst 10.000 dazu entschieden. Pro Monat bekommen sie ein Gehalt von umgerechnet etwa 300 Dollar. Die Freiwilligen müssen zwei oder drei Jahre auf dem Land bleiben.

Länger halten es viele laut dem Bericht des „Wall Street Journal“ ohnehin nicht aus: Sie zieht es dann wieder in die Städte, dort ist das Leben komfortabler und die Löhne höher. Viele junge Chinesen schlagen sich dort lieber mit Niedriglohnjobs durch, sind Verkäufer oder Lieferfahrer. Bei dem großen chinesischen Essenslieferdienst Meituan hat Berichten zufolge einer von fünf Fahrern einen Hochschulabschluss. Manche bleiben auch einfach weiter an der Uni und studieren, statt sich auf die schwierige Jobsuche zu begeben.

Das Freiwilligen-Programm auf dem Land könne aber auch ein Sprungbrett sein für eine der begehrten Stellen im Staatsdienst, sagt Spegele. „Einer der Gründe für die Teilnahme ist sicherlich, dass die Leute sich selbst gut darstellen wollen.“ Wer für die chinesische Regierung arbeitet, wird zwar nicht reich, hat aber einen sicheren Job. Dieser führe sie dann oft wieder zurück in die Städte. Die Verschickung aufs Land scheint also keine langfristige Lösung der Jugendarbeitslosigkeit in China zu sein.

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