„Die Toleranzfalle“: Axel Becker redet Klartext

Kinder außer Rand und Band, ratlose Eltern, resignierende Lehrer: In seinem Buch „Die Toleranzfalle“ beschreibt Axel Becker, Experte für Gewaltprävention, was eine zu nachsichtige Erziehung aus seiner Sicht anrichtet. Im Interview mit t-online.de erklärt der Pädagoge, wie Eltern gegensteuern können.

t-online.de: Beim Lesen Ihres Buchs kann man den Eindruck gewinnen, immer mehr Kinder und Jugendliche litten unter massiven Verhaltensstörungen. Verroht die Jugend?

Axel Becker: Nein. Die Mehrheit unserer Kinder und Jugendlichen ist keinesfalls so zu beurteilen. Allerdings nehmen sich Kinder oft ein Beispiel an „schwierigen“ Gleichaltrigen – und werden selbst widerständiger. Oft gibt es keinen Unterschied mehr zwischen dem Verhalten in der Schule, in der Freizeit mit der Peergroup und später im Beruf.

Klagte laut einer Umfrage der Deutschen Industrie- und Handelskammer 2006 jedes dritte Unternehmen über mangelnde Disziplin und Belastbarkeit der Azubis, so ist es heute schon jedes zweite.

Sie beschreiben zahlreiche Situationen, in denen Kinder ein respektloses, zum Teil aggressives Verhalten an den Tag legen. Woran liegt das?

Ich sehe das als Folge einer Erziehungsvermeidung seitens der Eltern und Pädagogen. Begriffe wie Disziplin sind in Verruf gekommen. Als Partner der Erwachsenen sind Kinder jedoch überfordert. Sie sehen keine Autorität mehr. Daraus kann Respektlosigkeit entstehen.

Erwachsene sollten Kindern klar machen: Ich habe Erfahrungen gemacht, die du noch nicht hast. Deshalb weiß ich auch, wann Schluss mit lustig ist. Eltern dürfen davon ausgehen, dass Kinder „normale“ Verhaltensanforderungen durchaus verstehen. Was selbstverständlich ist, muss nicht immer wieder begründet werden. Manchmal kann ein „Weil ich es sage“ genügen.

Wichtig ist: Eltern haben Vorbildcharakter und sollten sich dessen bewusst sein. Denn Kinder beobachten, wie die Erwachsenen miteinander umgehen. Wenn Kinder ihre Grenzen austesten – und das ist verständlich – können wir das als Hilfeschrei nach Orientierung verstehen.

Wer als Erwachsener zu nachgiebig agiert, tappt aus Ihrer Sicht in die Toleranzfalle und bestärkt das dissoziale Verhalten von Kindern. Sind wir also selbst schuld?

Wir können uns nicht beschweren, wenn wir unsere Aufgaben in der Erziehung nicht gemacht und keine Grenzen gesetzt haben. Fest steht, dass Jugendliche im Laufe des Lebens an Grenzen stoßen werden, ob im Beruf oder in der Partnerschaft. Nur sind die Grenzüberschreitungen dann meist folgenreicher.

Wie zeigen Eltern ihren Kindern am besten die Rote Karte?

Am Sinnvollsten ist es, wenn die Maßnahme mit dem Verhalten im Zusammenhang steht. Wenn Kinder mit Medien Unfug treiben, sollte deren Nutzung begrenzt werden. Untersuchungen in Großbritannien haben gezeigt, dass Jugendliche selbst die zeitweise Wegnahme des Smartphones als wirkungsvollste Maßnahme ansehen. Früher gebräuchliche Mittel ziehen nicht mehr. Taschengeldentzug etwa wirkt nicht, weil viele Eltern sowieso zusätzlich finanzieren, was die Kinder haben möchten.

Grundsätzlich sollten Eltern nie etwas ankündigen, was sie nicht durchhalten. Wer einmal die Gelbe Karte gezogen hat, muss auch die Rote Karte zeigen, wenn sich nichts ändert. Konsequenz ist gefragt und daran mangelt es meist. Dabei hilft es beispielsweise, eine Art Katalog der Verhaltensweisen anzulegen, mit denen ein junger Mensch das Familienleben stört, und sich für jeden Punkt eine „Gegenmaßnahme“ auszudenken. Zum Beispiel können Eltern einen Jugendlichen, der mit Dingen rücksichtslos umgeht, an der Reparatur oder Wiederbeschaffung beteiligen und den Gebrauch dieser Dinge zeitweilig einschränken.  

Sie beklagen, in Familien würden zu wenig Werte und ethische Grundlagen vermittelt. Wie schaffen Eltern das?

Es geht darum zu lernen, die Persönlichkeit und Freiheit anderer Menschen zu respektieren. Dabei helfen klare Regeln – entwickelt etwa bei einer regelmäßigen Familienkonferenz, bei der auch die Kinder Vorschläge machen. Eltern können gemeinsame Rituale in den Familienalltag einbinden – Vorlesen vor dem Schlafengehen zum Beispiel funktioniert selbst bei älteren Kindern. In den Geschichten können Probleme und Widersprüche des Tages allgemein und spielerisch thematisiert werden. Das stärkt die vertrauensvolle Beziehung zwischen Kindern und Eltern und schafft die Grundlage für eine positive Entwicklung.

In schweren Fällen plädieren Sie für einen klaren Kurs – vom betreuten Unterrichtsausschluss für Störenfriede bis hin zu temporärer Heimunterbringung von Kindern, die Gefahr laufen, kriminell zu werden. Ist solche Härte notwendig?

Zunächst einmal: Wenn ein Schüler, der den Unterricht stört, einfach für eine gewisse Zeit aus der Klasse geworfen wird, lernt er nichts, was ihm hilft, sein Verhalten zu ändern. Positive Erfahrungen habe ich mit der Einrichtung von sozialen Trainingsräumen in der Schule gemacht, in denen ein Pädagoge sich dann um den Schüler kümmert und mit ihm seine Probleme bespricht. Das hilft, alternative Verhaltensweisen zu entwickeln. An deutschen Schulen ist das wegen Personalmangels leider kaum umzusetzen.

Eine gute Lösung gibt es in Finnland. Dort werden notorische Störer vom Lehrer zu einem Lehrerassistenten geschickt, der mit ihnen arbeitet.

Eine Heimunterbringung ist die letzte Möglichkeit, wenn andere Maßnahmen nicht greifen oder Kinder daheim verwahrlosen. Der Aufenthalt im Heim sollte längere Zeit dauern, damit sich das Kind in der abgeschlossenen Situation daran gewöhnen kann, dass es Notwendigkeiten im Leben gibt, die nicht zu diskutieren sind.

Ich erinnere mich an einen Fall, in dem ein Jugendlicher nach einigen anderen Vorfällen zu Hause Feuer gelegt hatte. Die Eltern wussten nicht mehr weiter, der Junge kam in ein Heim. Sicher keine schöne Erfahrung. Einige Jahre später aber sagte er einem Kollegen, die Zeit sei schwer, aber hilfreich gewesen.

Ihrer Ansicht nach reagieren auch Behörden, Polizei und Jugendrichter oft zu liberal auf jugendliche Ausfälle. Greift der Staat zu spät ein, müssen härtere Strafen her?

Nein. Härtere Strafen führen zu keiner Erkenntnis oder Handlungsänderung. Eine versäumte Sozialisation lässt sich nur durch eine lang andauernde Betreuung nachholen. Wiederholte Bewährungsstrafen wirken ebenfalls kaum. Auch mit Sozialstunden oder Ähnlichem erreichen wir wenig, wenn Tat und Konsequenz nicht in Verbindung miteinander stehen.

Für Jugendliche, die gewalttätig auffallen und strafrechtlich aus der Spur geraten sind, weil sie Probleme mit der Impulskontrolle haben, sind Übungen am Beispiel des „heißen Stuhls“ ein gutes Training. Dabei wird der Betroffene unter Aufsicht eines Therapeuten mit den negativen Folgen seines Verhaltens konfrontiert. Er selbst darf nur zuhören und nicht reagieren. Anschließend erhält er vom Therapeuten positive Rückmeldungen – etwa, dass er es geschafft hat, während der Sitzung ruhig zu bleiben. 

In Ihrem Buch warnen sie vor einer religiösen Radikalisierung an unseren Schulen durch den Zuzug von Kindern aus verschiedenen Kulturen an. Was lässt sich dagegen tun?

Bei kleineren Kindern sehe ich weniger Schwierigkeiten. Bei Jugendlichen besteht jedoch die Gefahr, dass sie ihre religiösen Vorstellungen fundamentalistisch vertreten. Optimal wäre, wenn der Religionsunterricht von Vertretern aller Religionen gemeinsam gestaltet würde, um allen Kindern Kenntnisse über die verschiedenen Religionen zu vermitteln. Aufgabe der Schule ist es nicht, das jeweilige Glaubensbekenntnis zu stärken.

Eine Alternative wäre gemeinsamer Ethikunterricht, der auch nicht religiöse Schüler einschließt. So könnte gegenseitiges Verständnis entstehen.

Über Axel Becker

Axel Becker (68) ist zur See gefahren und war im Polizeidienst tätig, bevor er mehr als 30 Jahre in der Comenius Sonderschule in Berlin als Lehrer arbeitete. Parallel dazu absolvierte er eine Weiterbildung zum Thema Soziales Lernen und zum Mediator für Gewaltprävention. Seit 2012 gibt er Seminare und Workshops, zum Beispiel für die Friedrich-Ebert-Stiftung. Axel Becker lebt mit seiner Frau in Berlin.

Sie können mehr von den Nachrichten auf lesen quelle

Weer

Weather Icon
background