Es macht mir Angst


Erinnerungen jüdischer Familien hat die ehemalige Klasse 8b des Goethe-Gymnasiums Bad Ems in Form von fiktiven Tagebucheintragungen verfasst. Grundlage dafür sind wahre Begebenheiten, die sie mit ihrer Lehrerin Elisabeth Knopp recherchiert haben. Dafür wurde die Klasse mit dem ersten Preis des Rolf-Joseph-Preises ausgezeichnet. Wir dokumentieren die Arbeit in Auszügen.

Henriette Fürth, Gießen, 1877

Liebes Tagebuch! Ich habe es geschafft! Nachdem ich mit fünfeinhalb Jahren die Höhere Mädchenschule besucht und gut gelernt habe, habe ich meinen Schulabschluss geschafft. Ich bin sehr stolz und froh. Doch was jetzt? Ich habe wirklich viele Ideen, doch ich muss mich einschränken, da ich als jüdisches Mädchen leider nicht so viele Möglichkeiten habe. Ich will mich unbedingt gegen die Benachteiligung von Mädchen, Frauen, Juden und Arbeitern einsetzen. Ein weiterer Traum von mir wäre es, Armen zu helfen. Ich freue mich schon sehr auf meine Zukunft. Deine Henriette

Frankfurt am Main, 1899

Ach, liebes Tagebuch, manchmal weiß ich nicht, wie ich alles schaffen soll. Aber ich finde es gut, dass ich durch meinen Einsatz für Frauenrechte etwas bewirken kann. Ich hoffe auch, dass meine Kinder später diese Veränderungen erleben dürfen, vor allem meine Töchter. Das würde mich sehr glücklich machen. Henriette

Frankfurt am Main, 1915

Liebes Tagebuch, es ist zwar ziemlich anstrengend, den ganzen Tag in der Armenküche zu arbeiten, aber man fühlt sich dennoch sehr gut, da man den Menschen in Not helfen kann. Ich frage mich, wann der Krieg aufhören wird, denn so will ich einfach nicht mehr weiterleben! Deine Henriette

Frankfurt am Main, 1915

Liebes Tagebuch! In der Armenküche war heute irgendwie vieles anders als sonst. Während wir das Essen ausgaben, hörte ich ein Rumpeln in der Küche. Als ich nachschaute, sah ich einen kleinen, viel zu dünnen Jungen, der etwas für seine Familie zum Essen stehlen wollte. Ich erwischte ihn eben noch am Kragen und fragte ihn, warum er nicht mit seiner Familie nach vorne zur Ausgabe komme und sie sich etwas von der dampfenden Suppe aus dem großen Kessel geben lasse. Da meinte er, dass sich seine Familie schäme, da sie nichts hätten, um satt zu werden. Sein Vater sei schon so lange arbeitslos und finde keine neue Arbeit. Also gab ich ihm etwas Brot und zwei Kohlrüben mit. Vielen ist nur noch ihr Stolz geblieben – und sie haben Angst, diesen zu verlieren, wenn sie um ein kostenloses Essen bitten müssen. Deine Henriette

Frankfurt am Main, 1919

Liebes Tagebuch! Jetzt bin ich auch noch zur Stadtverordneten gewählt worden. Morgen muss ich schon wieder eine Rede auf einer Veranstaltung halten, aber im Haushalt muss auch alles funktionieren! Deine Henriette

Frankfurt am Main, 1933

Liebes Tagebuch! Heute ist etwas unglaublich Schlimmes passiert. Ich wurde aus all meinen Ämtern entlassen. Ich habe so viel erreicht. Ich bin vor zwei Jahren für mein Engagement ausgezeichnet worden und das soll jetzt alles Geschichte sein? Wie oft habe ich mich für Frauen und Juden eingesetzt, damit endlich für alle Gerechtigkeit herrscht? Und jetzt habe ich Berufsverbot! Nur weil ich Jüdin bin. Ich hoffe, es nimmt ganz bald wieder ein Ende. Wie mag es in Ems gehen? Henriette

Frau Rosenbaum, Bad Ems, April 1933

Liebes Tagebuch! Ich habe schon wieder eine neue Schmiererei an der Hauswand entdeckt. Schrecklich, so etwas. Ich kann es einfach nicht begreifen. Mein Mann hat für Deutschland im Krieg sein Leben gelassen, und so danken sie es uns. Heute hatte ich mir überlegt, dass ich zum Gedenken an ihn sein Bild ins Schaufenster stelle: das große, auf welchem er die Uniform anhat. Ich versah es mit einer Trauerschleife und stellte ein Schild davor: „Gefallen für Deutschland 1915“. Nach 20 Minuten kamen zwei SA-Männer in das Geschäft gestürmt und schrien mich an. Vor der Ladentür haben sie dann Posten bezogen. Ich kann das alles immer noch nicht ganz glauben.

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