Experte: Schulen sind auf dem Holzweg

Wie steht es um die Bildung unserer Schüler? Die Politik versucht nicht zuletzt mit Reformen, Schüler schnell schlau zu machen. Vorsicht, mahnen Experten. Richtige Bildung habe viel mit Entschleunigung zu tun.

Ein schlechtes Zeugnis stellt der österreichische Philosoph, Autor und Bildungsexperte Konrad Paul Liessmann den Bildungspolitikern in Deutschland und Österreich aus. In den Schulen dominiere der Glaube an den Erwerb von Kompetenzen, egal, an welchen Texten, Aufgaben und Theorien diese geübt würden, sagt der 64-Jährige der Deutschen Presse-Agentur. Für ihn ein Irrweg. „Die effizienz- und kompetenzorientierte Schule hindert junge Menschen, die nötige Fantasie und Kreativität zu entwickeln.“

Deutsche Presseagentur: Die deutschen Schüler sind laut Pisa-Studie recht gut in „Teamarbeit“. Teilen Sie die Freude?

Konrad Paul Liessmann: Ich stehe Pisa-Studien prinzipiell skeptisch gegenüber. Darüber hinaus glaube ich, dass Teamarbeit wenig mit Bildung zu tun hat und überschätzt wird. Zudem wurde diese Kompetenz nicht in realen Situationen, sondern in Computersimulationen getestet. Das ist ein sehr zeitgeistiger Ansatz. Bildung ist eine Sache von Einzelnen und auch von Einsamen.

Was ist Bildung?

Die Bildung des Menschen beinhaltet Formung, Entfaltung, Orientierung, Selbstgestaltung und das Gewinnen einer auch ästhetischen Urteilskraft. Bildung lässt sich nicht reduzieren auf den Erwerb von Wissen, aber auch nicht auf den Erwerb von Kompetenzen. Bildung meint immer, wie kann ein Mensch seine Haltung, seinen Charakter, seine Fähigkeiten zu einer Mündigkeit entwickeln. Bildung kennt also letztlich keine definierbaren Ziele, sondern ist ein offener Prozess.

Was hat die Bildungspolitik in Österreich und Deutschland mit Bildung zu tun?

Gar nichts. Es geht ihr nicht mehr um die Bildung des Menschen, sondern es geht ihr um das Schulen und Testen von einzelnen Fähigkeiten. Es geht ihr nicht mehr, und da wage ich eine Trendwende zu prognostizieren, um die Inhalte der Bildung. In den Lehrplänen geht es um den Erwerb der Lesekompetenz, aber dabei wird völlig ausgeklammert, was gelesen wird. Dabei sind Inhalte entscheidend. Denn nur diese berühren Menschen. Kompetenzen lassen kalt.

Sind die Lehrer die neuen Coaches fürs Leben?

Ich würde Lehrer davor warnen, ihr Selbstverständnis in dieser neuen Form des Coachings und der Begleitung der Schüler zu sehen. Lehrer sollen Lehrer sein. Pädagogen müssen das Gefühl haben, dass sie etwas Wichtiges weitergeben wollen, gerne mit persönlicher Färbung und persönlichem Stil. Der gute Deutschlehrer begnügt sich nicht damit, Leseprozesse zu coachen, sondern ist von der Notwendigkeit überzeugt, Kafka, Thomas Mann oder Peter Handke zu lesen.

Die Lehrer leiden Ihrer Ansicht nach unter einer selbst auferlegten „Zerknirschungsstrategie“. Was meinen Sie damit?

Das ist eine neue Mode in der Lehreraus- und fortbildung: Ständige Selbstreflexion und Selbstrechenschaft, ständige Selbstüberprüfung von eigenen Defiziten und dem Nicht-Erreichen von Zielen. Das Selbst-Monitoring ist eine Variante der pietistischen Selbstbeobachtung. Natürlich braucht man kritische Distanz zu sich und seiner Tätigkeit. Aber wir müssen weg von diesem Phantasma permanenter Kontrollierbarkeit und der permanenten Vergleichstest. Das schafft nur unglückliche Lehrer und damit unglückliche Schüler.

Was haben Bildung und Muße miteinander zu tun?

In der Antike wusste man, dass Bildungsprozesse keine Arbeitsprozesse sind. Muße bedeutet, dass ich mich mit Dingen um ihrer selbst willen befassen kann und nicht ständig darauf schielen muss: Erreiche ich damit ein Ziel, löse ich damit ein Problem? Nur Freiräume befördern die Bildung. Effizienz allein bedeutet keinen Fortschritt. Gerade heute wäre nichts so sehr nötig wie Fantasie. Die effizienz- und kompetenzorientierte Schule hindert junge Menschen, die nötige Fantasie und Kreativität zu entwickeln.

Kann man einfach das Ruder herumreißen?

Das ist keine unmögliche Aufgabe. Man kann natürlich Zeitordnungen und Lehrpläne an Schulen und Universitäten anders gestalten. Man kann aus den Bildungssystemen den dramatischen Druck nehmen. Wir sind die reichste Gesellschaft aller Zeiten mit der höchsten Lebenserwartung aller Zeiten – wir können problemlos 40 bis 45 Jahre arbeiten und hätten noch viel Zeit für Bildungsprozesse mit Muße. Ich sehe keinen Grund für den Zeitdruck im Bildungssystem.

Wo mangelt es auffallend an Bildung?

In den sozialen Netzwerken. Dort herrscht Bildungsmangel schon durch den Mangel an Kinderstube und Selbstbeherrschung. Viele wissen nicht, wie man argumentiert, wie man unterscheidet zwischen Argumenten einer Sache gegenüber und unzulässigen Argumenten einer Person gegenüber. Dabei wäre eine profunde Diskussion mit auch scharfer Kritik hilfreich. Ich sehe eine Paradoxie. Wir machen Bildungseinrichtungen zu schmerzfreien Räumen, wo nichts mehr gedacht werden darf, was jemand als anstößig empfinden könnte. Dieser Hyper-Empfindlichkeit steht gleichzeitig eine Vulgarisierung der Öffentlichkeit gegenüber. Beides ist das Gegenteil von Bildung.

Welche Rolle spielen Intellektuelle in Zeiten der „Political Correctness“?

Intellektuelle tendieren dazu, das Volk zu bevormunden. Diese Gefahr muss man sehen. Die einfachste Art, sich mit den Positionen des Anderen nicht auseinanderzusetzen, ist, ihn zu pathologisieren wie bei der Flüchtlingsfrage. Da wurden Skeptiker zu Kranken erklärt: Islamophobie. Wenn Erwachsene Angst haben, Anstoß zu erregen, führt das zu einer Verkümmerung des Sprech- und Denkvermögens. Es muss aber auch klar sein: Niemand ist verpflichtet, sich mit anderen unter seinem Niveau auseinanderzusetzen. Ich muss mich wirklich nicht mit den primitivsten Vorurteilen und Hassorgien befassen.

Was erwarten Sie vom EU-Bildungsgipfel 2018?

Es wäre eine schöne Bildungsinitiative, einen Kanon von 20 bis 25 Schlüsselwerken europäischer Literatur von der griechischen Antike bis zu James Joyce zu empfehlen. Diese Bücher waren und sind doch die Grundlage für die kulturelle Identität Europas. Meine Prognose ist, dazu wird es nicht kommen. Es wird wieder nur um Standardisierung gehen, darum wie man Kompetenzen noch präziser evaluieren kann, noch effizienter die Arbeitsmärkte bedienen kann und den Internet-Konzernen im Bildungsbereich noch mehr Spielwiesen verschaffen kann.

Zur Person:
Der 64-Jährige lehrt an der Universität Wien, ist Autor vieler Publikationen und befasst sich seit langem intensiv mit der Bildungspolitik. Zuletzt erschien sein Buch „Bildung als Provokation“. Der Rennradfahrer ist Kritiker des Autoverkehrs und Karl-May-Fan.

Quelle:
– Nachrichtenagentur dpa, Matthias Röder

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