In Vino Verena: Sexismus und Pornos sind Alltag an Schulen

Immer mehr Kinder und Jugendliche kommen sehr früh mit Pornos in Berührung. Unsere Kolumnistin über ein 15 Jahre altes Mädchen, das Versenden von Nacktbildern und die Sexualisierung an unseren Schulen.

Mathilda ist stinksauer auf ihre Mutter. Denn die hat ihr Handy-Verbot erteilt und ihre Instagram-App deinstalliert. Mathilda ist die Tochter meiner Freundin, sie ist 15 Jahre alt und alle ihre Klassenkameraden haben einen Instagram-Account. In der Schule schreibt sie gute Noten, sie interessiert sich für Mode und Musik. In letzter Zeit aber gab es öfter Ärger, weil Mathilda sich gern ihre Lippen vergrößern würde. „Nur ein bisschen“, sagt sie, die seien „einfach zu schmal“. Sie sei leider „nicht so hübsch“ wie die Mädchen aus ihrer Klasse, von denen fast alle einen größeren Busen, einen Freund und auch schon Sex haben.

Als ihre Mutter auf dem Handy freizügige Fotos ihrer Tochter fand, kam es zum Streit. Denn erst vor Kurzem hatte sie sie eindringlich über die Gefahr solcher Bilder gewarnt, auch wenn Mathilda beteuert, ihr Schwarm habe ihr versprochen, sie niemandem zu zeigen.

Mathilda ist nur eines von Millionen Mädchen, das bereits in sehr jungen Jahren sexuell aufgeklärt wurde. Und zwar durch das Internet. Allem voran durch Social Media, aber auch durch Pornos, die die Jungs aus ihrer Klasse auf dem Schulhof herumzeigen. Das sei nichts Besonderes, jeder habe so ein Video schon mal gesehen, sagt Mathilda ein bisschen genervt.

Nacktbilder, diverse Filmchen von Sexpraktiken, das ist vor allem unter Jungs längst die neue Währung auf dem Schulhof. Wer kein Nacktfoto seiner Freundin vorweisen kann, gilt als Loser. Es ist ein irrer Wettstreit, der Heranwachsende, besonders Mädchen, enorm unter Druck setzt. Ist mein Busen groß genug? Sind meine Lippen wohlgeformt? Bin ich überhaupt schön?

Pornos auf dem Schulhof sind kein Lausbubenstreich

Viele Eltern verzweifeln mittlerweile an den Wünschen ihrer Töchter, das Gesicht und den Körper verändern zu wollen, um einem Schönheitsideal zu entsprechen, das durch realitätsferne Pornos und Instagram-Filter geprägt wird.

Sexualisierung an Schulen: Lehrer schlagen schon lange Alarm. Es scheint, auf jegliche Form der Aufklärung – sei es im Unterricht oder durch die Erziehungsberechtigten – folgen zehn weitere „Schulhof-Pornos“, die das Bild vom Sex im Kopf der Jugendlichen weiter verzerren.

Ich glaube, wir sind uns als Gesellschaft darin einig, dass man gegen den frühen Sexismus unter Jugendlichen nur mit intensiven Präventionsmaßnahmen und sensibler Medienbildung ankommt. Längst aber hat sich eine gewisse Resignation eingeschlichen, denn die auf dem Schulhof gezeigten Sexfilme, in denen Frauen meist in herabwürdigender Art und Weise dargestellt werden, sind längst überall. Es ist wie eine Seuche. Das sagt nicht nur meine Freundin, sondern, wie ich nach kurzer Recherche zu diesem Thema erfahre, auch viele Lehrer und Lehrerinnen.

Pornos auf dem Smartphone zu haben, sie auf dem Schulhof herumzuzeigen und zu verbreiten: Das ist kein Lausbubenstreich, sondern erfüllt den Sachverhalt einer Straftat, für die sich auch Minderjährige zu verantworten haben. Man kann es nicht kleinreden: Viele Schulen sind mittlerweile Orte, an denen jeden Tag Sexismus stattfindet, an denen Mädchen sexualisiert und auf ihre sekundären Geschlechtsteile reduziert werden.

So viel Informationsmöglichkeiten, so wenig Wissen

Zurück zu Mathilda: Vor ein paar Wochen war sie mit ihrer Mutter das erste Mal bei einer Gynäkologin, die sie beriet und mit der sie über ihre ersten sexuellen Erfahrungen sprach. Denn Mathilda ist verwirrt und zutiefst verunsichert, auch wenn sie selbst sagt, ihre Mutter würde „übertreiben“. Diese wiederum meint, ihre Tochter habe überhaupt kein natürliches Körpergefühl durch „diesen ganzen Social-Media-Mist“. Wie Sex sein und ihr Körper aussehen sollte, das habe sie vor allem durch ihre Freundinnen und das Internet erfahren.

Im Wartezimmer der Frauenarzt-Praxis hängt ein Poster einer Künstlerin. Es zeigt Vulven in unterschiedlichsten Formen und Größen. Die Gynäkologin, die viele junge Mädchen wie Mathilda berät, sagt, sie habe sich früher nicht vorstellen können, dass im Jahre 2022, wo die Möglichkeiten Wissen zu erlangen so mannigfaltig seien, so viel Unwissen herrsche. Anders als noch vor wenigen Jahren würden viele junge Mädchen heute glauben, sie seien sexuell vollständig aufgeklärt und bräuchten keinerlei Beratung mehr.

Dazu zählt leider immer wieder der Irrglaube, mit ihrem Aussehen oder ihrem Geschlecht sei etwas nicht in Ordnung. Meist, weil der Freund gesagt habe, ihre Vulva sähe ja überhaupt nicht aus wie die Vulven, die er aus den Pornos kenne.

Die verunsicherten jungen Frauen, so die Gynäkologin, seien manchmal regelrecht benebelt durch zu viele Informationen. Viele würden sich teils mit einer Flut an Fragen an sie wenden, die mitunter haarsträubend seien. Manche berichten voller Scham von ihren ersten sexuellen Erlebnissen. Andere glauben, Sex sei etwas, was die Frau für den Mann mache. Die Ärztin sei schockiert darüber, wie viele junge Frauen wenig bis gar kein Selbstwertgefühl haben.

Vom Druck dazuzugehören

Aber auch die jungen Männer würden unter enormem Druck stehen. Die Pornos, die sie in so jungem Alter konsumieren, ließen sie glauben, dies sei die sexuelle Realität, der sie gerecht werden müssen. Der natürliche Zugang zur eigenen Sexualität, so die Gynäkologin, sei vielen Jungen und Mädchen durch den frühen Zugang zur Pornografie verwehrt geblieben.

Ich erzähle Mathilda davon, wie ich in ihrem Alter war. Ihre Mutter verdreht die Augen und lacht. Ich berichte, wie ich mich von meinen Eltern in dickem Parka und Jeans verabschiedete und im Keller längst die Klamotten für die Disco versteckt hatte. Von den Liebesbriefen, die ich an Jungs schrieb. Von Küssen im Treppenhaus und Fummeleien auf der Parkbank.

Ich erzähle ihr auch davon, wie ich mir einst ein VHS-Video anschaute, auf dem – der Film war schon zu Ende – plötzlich die Reste eines Pornos liefen. Und wie sehr ich staunte, mich das Gesehene aber auch abschreckte. Denn die Jungs, in die ich verliebt war, behandelten mich nie so, wie die Frauen in den Pornos behandelt wurden und werden.

Mathilda sagt, sie habe keine Lust, die nächsten Wochen ständig über Sex, Pornos und Instagram zu quatschen. Aber sie sagt auch, sie würde nun lieber eher „old School“ Liebesbriefe schreiben, statt nochmal ein freizügiges Foto zu versenden, wir könnten jetzt also wirklich endlich aufhören zu nerven.

(Dieser Artikel wurde am Samstag, 09. April 2022 erstmals veröffentlicht.)

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