Michael Schulte-Markwort spricht über unglückliche Superkids

Nie waren Kinder so umsorgt, so selbstbewusst und so reflektiert wie heute. Gleichzeitig klagen sowohl Kinder als auch Eltern über die Anforderungen, die heute an sie gestellt werden. Professor Michael Schulte-Markwort, ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, erklärt, wie wir uns aus der Optimierungsfalle befreien können.

Der zweifache Vater Schulte-Markwort spricht in seinem neuen Buch von „Superkids“, die allerdings darunter leiden, dass sie immer perfekt und erfolgreich sein sollen.

t-online.de: Der Untertitel ihres Buches heißt „Warum der Erziehungsehrgeiz unsere Familien unglücklich macht“. Ist es nicht positiv, wenn Eltern sich bemühen, ihrem Kind das Beste zu ermöglichen?

Michael Schulte-Markwort: Natürlich ist das positiv und ich freue mich auch sehr darüber, dass ich heute Eltern eher bremsen muss. Sie kommen viel eher. Früher mussten wir den Eltern immer wieder sagen: Fühlt Euch ein in Eure Kinder, seid näher dran. Insofern ist das eine gute Entwicklung. Aber ich glaube, dass Erziehung ebenfalls unter dem Zwang der Optimierung steht. Eltern sind ratlos, weil sie angesichts der unglaublich vielen Angebote nicht mehr herausfinden, was gut ist für ihr eigenes Kind. Sie trauen sich nicht mehr, sich auf ihre Intuition zu verlassen.

Immer wieder hört man, Eltern hätten ihre Intuition verloren, würden mehr auf Ratgeber denn auf ihre innere Stimme hören.

Grundsätzlich sehe ich heute schon viel mehr Einfühlungsvermögen. Aber die Eltern sind verwirrt. Bei der Erziehung geht es nicht um richtig oder falsch, es geht um angemessen. Und man muss sich trauen, Grenzen zu setzen. Einzig die Eltern sind die wahren Experten für ihr Kind. Ich frage dann immer: Was würde Sie sagen, was ist der nächste richtige Schritt? Wenn ich Eltern ermuntere, sich darauf zu besinnen, trauen sie sich oft auch mehr.

Welche Gefahr birgt es, Superkids zu erziehen?

Noch nie waren Kinder so gut begleitet. Aber ich beobachte auch, dass Eltern heute die Trainer ihrer Kinder sind und sich mit anderen Trainern darüber austauschen, welche Trainingsmethode die erfolgreichste ist. Es scheint, als müsste man beweisen, dass man sich um eine optimale Förderung gekümmert hat. Doch dieser Wunsch ist Chance und Fluch zugleich.

Schwierig wird es, wenn die elterlichen Förderimpulse und die kindlichen Möglichkeiten nicht zusammenpassen. Dann werden die Kinder und Jugendlichen zu hyperangepassten Leistungsträgern. Sie lassen sich wie Marshmallows eindellen und verbiegen, um möglichst leicht und rosa zu wirken. Und sind dabei unglücklich.

Aber auch das Gegenteil – „Bullerbü“, die ideale Kinderwelt – kommt in Ihrem Buch nicht gut weg. Warum?

Viele glauben, man müsste nur die Bedingungen von damals wieder herstellen und dann ist alles gut. Die Kinder sind draußen an der frischen Luft, regeln ihre Konflikte  untereinander und kommen abends glücklich und müde nach Hause. Unter modernen Aspekten wäre „Bullerbü“ aber eine Form der Vernachlässigung. Kindheit ist heute verhäuslicht. Das kann man beklagen, man kann es aber auch positiv sehen.

Frei nach dem Motto: Kinder bereiten sich im Spiel auf ihr späteres Leben vor? Und das ist heute nun mal anders als zu „Bullerbü“-Zeiten?

Auf jeden Fall. Kinder sind wissbegierig, und dabei gehen sie auch mit den Medien viel entspannter um als wir es tun. Sie sind damit aufgewachsen und werden diese Fähigkeiten später auch brauchen. Aber natürlich wollen sie sich auch bewegen, brauchen frische Luft. Brauchen Räume, in denen sie unbeobachtet sind. Es ist wie bei der Ernährung: Die Mischung macht es. 

Man muss Kinder auch einmal laufenlassen und dabei nicht mit einer App verfolgen. Kontrolle ist gut, aber Vertrauen ist besser. Sonst entstehen keine Beziehungen, kein Selbstbewusstsein. Es genügt, wenn ein Kind einen freundlich liebevollen Blick in seinem Rücken weiß.

In vielen Familien scheint alles nach Plan zu verlaufen: Musikunterricht, Sport, Schulwahl, Harmonie bis ins Erwachsenenalter hinein. Es scheint, als bräuchten diese Superkids gar keine Abnabelungsphase mehr.

Pubertät hat sich tatsächlich gewandelt. Die Spannkraft, die sie vor zwanzig Jahren noch hatte, gibt es in dieser Form nicht mehr. Viele Jugendliche fühlen sich ausreichend geliebt und verstanden, ihre Eltern warten vergebens darauf, dass es zu Protest und Provokation kommt.

Natürlich entstehen Autonomie und Identität dadurch, dass man sich von den Eltern ablöst. Das ist nach wie vor eine schwere Aufgabe, aber man muss es nicht mit einem Knall machen. Das ist auch persönlichkeitsabhängig. Zu uns kommen aber auch häufig Jugendliche, die sich fremdgesteuert fühlen und erst sehr spät in ihrer Pubertät, die ja bis zum 25. Lebensjahr dauern kann, dagegen protestieren.

Wenn wir alle Superkids haben, warum machen es sich Eltern gegenseitig so schwer?

Das ist ein Phänomen, das mit dem Optimierungsdruck zu tun hat. Das hat es tendenziell schon immer gegeben, nur die Themen waren andere. Viele Eltern leiden darunter, können es aber nur schwer abstellen. Wer kann sich schon dem Leistungsdruck entziehen und sagen: Mein Kind braucht nicht gut zu sein. Denn „gut“ heißt immer Lebenserfolg und der wiederum ist vielfach gleichgesetzt mit dem Schulabschluss und der Leistungsfähigkeit.

Die Währung, mit der unsere Kinder unsere Bemühungen „bezahlen“, ist also ihr Erfolg?

Im Prinzip ja. Eltern, deren Kinder diesen Erfolg nicht haben, brauchen oft Trost. Wir versuchen dann mit ihnen herauszufinden, was das individuelle Profil ihres Kindes ist, was es gut kann, was möglich ist. Schließlich müssen es nicht immer Abitur und Studium sein. Man kann auch mit einem Lehrberuf erfolgreich und zufrieden sein.

Wann ist der richtige Moment, ein Kind loszulassen?

Wahrscheinlich viel später als man bisher dachte. Je genauer man an den jungen Menschen dranbleibt, desto mehr Zeit brauchen sie. Aus der Praxis kann ich sagen, dass gerade die jungen Erwachsenen bisher unversorgt waren. Für die Kinderstation waren sie zu groß, für die Erwachsenenstation zu jung. Es ist also eine wichtige klinische Erfahrung, dass wir uns dieser Phase mehr zuwenden müssen, im Sinne von „fürsorglich hinschauen“. 

Es ist also nicht mehr zeitgemäß, die Kinder mit 18 in ihr eigenes Leben zu entlassen? Ist also der Begriff „Hotel Mama“ viel zu negativ besetzt?

Es ist doch nicht schlecht, wenn sich ein junger Mensch zu Hause wohlfühlt, seine Zeit braucht, einen verständnisvollen, unterstützenden Raum, um zu reifen und seine Persönlichkeit zu entwickeln.  Wir leben in einer Zeit, in der wir viele Fragen stellen. Da sollten wir uns auch die Frage stellen, wie unsere Kinder aufwachsen sollen, welche Werte wir ihnen vermitteln wollen.

Viele beklagen, die Kinder von heute würden immer ernsthafter. Stimmt das denn?

Die Kinder heute sind anders als früher, viel reflektierter. Ich bin immer wieder erstaunt, welche Gedanken sie sich machen, welche Fragen sie stellen. Begegnet man ihnen voller Respekt auf Augenhöhe, dann entstehen Entwicklungsräume. Aber es stimmt, die Kinder werden ernster.

Unsere Welt hat sich verändert und Ernsthaftigkeit kann ja auch Spaß machen. Mit Kindern ernsthaft in Kontakt sein ist eine eigene Form von Lebensfreude. Das darf man nicht verwechseln mit Traurigkeit. Wichtig ist, sich auf die Ebene einzulassen, auf der das Kind sich gerade befindet: das eigene Vokabular anpassen ohne kindisch zu werden, das Kind ernst nehmen, auf es eingehen und sich interessieren für das, was es tut.

Und so findet man die Balance zwischen Fördern und Fordern?

Das Geheimnis ist Beziehung statt Erziehung. Das ist bei Erwachsenen nicht anders, da fragt man sich doch auch, was trägt uns gemeinsam, was wünsche ich mir von Dir, was kannst Du von mir erwarten. Dafür gibt es keine Patentrezepte. Kinder sind keine Arbeitsabläufe, die man „effektiver“ machen kann. Sie sind dynamische Wesen, die nur in der liebevollen Beziehung zu uns so wachsen können, dass sie eine gute Entwicklung nehmen.

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