Protestwelle in den USA: „Die Jungen sind moralisch sensibler“


Unter dem Hashtag #NeverAgain demonstrieren Zehntausende US-Teenager derzeit ein neues Selbstbewusstsein und machen Politik von der Straße aus. Das haben vor ihnen auch schon andere versucht, in Deutschland zum Beispiel die 68er. Doch die Jugend von heute hängt keiner gesamtgesellschaftlichen Utopie nach, sondern verlangt Machbares, wie etwa die Verschärfung der Waffengesetze. Der Protestforscher Dieter Rucht vom Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung (WZB) erklärt im Gespräch mit n-tv.de, was die Protestjugend unangreifbar macht und warum sie trotzdem in Gefahr ist.

n-tv.de: Herr Rucht, an der Spitze der aktuellen Proteste für verschärfte Waffengesetze in den USA steht die Jugend. Wieso sind es oft die Jungen, die gegen Missstände protestieren?

Dieter Rucht: Ein wichtiger Punkt ist, dass Jugendliche moralisch sensibel sind. Über die Kluft zwischen dem, was da offiziell an hehren Werten verkündet wird, und dem, was real passiert, können sie sich sehr empören. Erwachsene sind da abgebrühter. Sie haben in der Tendenz schon fast ein zynisches Verhältnis zur Politik – und sagen: „Das kann man nicht ändern. So sind nun mal die Dinge.“

Wie optimistisch sind Sie denn für die „March for our lives“-Bewegung?

Dieter Rucht ist promovierter Soziologe.

Die Chance, dass sich etwas ändert, ist größer als je zuvor. Das liegt hauptsächlich daran, dass es einerseits eine eher spontane Massenbewegung, anderseits die Möglichkeit von Bündnissen mit bestehenden Organisationen gibt. Es existieren etablierte Gruppen – zum Beispiel Teile der Demokratischen Partei, die das Problem seit Jahren auf dem Schirm haben. Und nun kommt der Faktor Jugend hinzu. Die Jugendlichen kann man nicht so leicht diskreditieren. Man kann sie vielleicht naiv finden, aber man kann ihnen nicht vorwerfen, sie würden parteipolitische Spielchen treiben. In dieser Kombination macht das die Proteste zu mehr als einem Strohfeuer.

Versuche, einzelne Führungsfiguren anzugreifen, gibt es aber durchaus …

Wenn auf der Gegenseite Millionen Menschen stehen, die begeistert eine Waffe tragen wollen, dann gibt es natürlich Angriffe – die gehen dann auch auf Äußerlichkeiten oder die vermeintliche Herkunft. Es wird versucht, einen schwarzen Fleck auf der Weste Einzelner zu finden.

Wie wichtig sind Anführer wie etwa die 18-jährige Emma Gonzalez?

Sie sind vor allem hilfreich, wenn es darum geht, öffentlich wahrgenommen zu werden. Die Medien wollen Gesichter zeigen. Sie wollen jemanden, der für das große Ganze steht. Und sie können wenig mit einer diffusen Bewegung anfangen, in der es keinen Sprecher gibt. Häufig werden Personen zu Anführern gemacht, die es de facto gar nicht sind – die aber durch diese öffentliche Positionierung dann tatsächlich zu Führungspersonen werden.

Ist das nicht ein bisschen viel für einen Jugendlichen?

Emma Gonzalez (2.v.r.) mit weiteren Überlebenden des Parkland-Amoklaufs auf einer Demonstration in Washington.

Das hängt natürlich sehr von der Person und ihrem Umfeld ab. Manche Leute heben dann sehr schnell ab und bieten medial genau das, was von ihnen erwartet wird. Irgendwann tritt aber auch bei ihnen oder den Medien eine Ermüdung ein. Ich sehe es schon als mögliche Gefahr, wenn junge Leute vorgeschoben werden und man sich mit ihnen schmücken will. Was davon ist authentisch? Und was ist eine Instrumentalisierung dieser Person? Es gibt Jugendliche, die das gut machen, die clever sind – diese will ich keinesfalls kritisieren. Sie dürfen aber nicht verschlissen werden.

Eigentlich fordern die Jugendlichen ja nichts, was nicht umsetzbar wäre: Nicht einmal das Recht auf Waffenbesitz soll angetastet werden. Ist die Jugend von heute pragmatischer?

Nach der 68er Studentenbewegung sind die Forderungen von Protestgruppen in Deutschland kleinteiliger geworden. Teilweise wurden sie sogar von der Politik beklatscht. Die Jugend mag heute keine sichtbare gesellschaftliche Utopie mehr haben, aber am wesentlichsten ist: Damals in den 1960ern war der Protest keine Ein-Punkt-Bewegung. Es gab keine isolierten Forderungen wie zum Beispiel: „Wir wollen 'nur' den Vietnam-Krieg beenden“. Oder: „Wir wollen 'nur' die Universitäten demokratisieren“. Die Bewegung war sehr breit angelegt und verfolgte ein ganzes Bündel von Zielen. Jetzt haben wir es nicht mit einer sozialen Bewegung zu tun, sondern mit einer politischen Kampagne, die sich auf die Waffengesetzgebung in den USA konzentriert. Damit haftet ihr ein realistischer Zug an. Und die Protestierenden können nicht mehr einfach als Träumer abgestempelt werden.

Nehmen wir die Jugend generell nicht ernst genug?

Sie ist ganz klar unterrepräsentiert – in allen politischen Gremien. Es geht auch gar nicht darum, eine numerische Präsenz zu erreichen, sondern der Jugend eine Stimme zu geben. Langfristig tut sich da etwas. Noch im 19. Jahrhundert sind der Erfahrungsschatz, das Wissen über die Welt und alltägliche Dinge mit dem Alter gewachsen. Bei archaischen Stämmen gab es den Ältestenrat – also diejenigen Leute, die die Beschlüsse gefasst haben für die gesamte Gemeinschaft. Jetzt sehen wir eine partielle Umkehrung dieser Bedingungen: Die Jungen wissen teilweise mehr als die Alten, nicht zuletzt durch den Gebrauch neuer Medien. Das Wissen um die Welt hat sich demokratisiert. Warum sollen also nicht die Jungen ihre eigenen Ansichten und Urteile haben und in der Politik mitmischen?

Das klingt ein bisschen nach Generationenkonflikt …

Ich glaube, der Generationenkonflikt ist gar nicht so stark. In den 1950er- und 1960er-Jahren spielte er eine weitaus größere Rolle. Es gab damals die Halbstarken-Krawalle. Es gab die Auflehnung gegen die Elterngeneration – da ging es um Haarlängen, um Kleidungsstil und natürlich auch um Politik. Diese relativ scharfen Gegensätze haben sich abgeschliffen, weil die Gesellschaft liberalisiert wurde. Die Toleranz für abweichendes Verhalten ist heute viel größer. Und Punkte, an denen sich Protest früher entzündet hat, bieten weniger Reibungsfläche.

Sie haben gesagt, Protest sei das „Frühwarnsystem der Gesellschaft“. Wie meinen Sie das?

Die Politik reagiert mit einer gewissen Verzögerung auf gesellschaftliche Probleme und zwar vor allem erst dann, wenn sie sich in Wählerstimmen auszuwirken drohen. So lange aber der Eindruck vorherrscht, es gebe nur ein paar Nörgler, passiert wenig. In der Gesellschaft gibt es immer Potenziale der Unzufriedenheit. Das Protestgeschehen ist ein Indikator dafür, wo sich diese kritischen Potenziale bündeln. Vieles mag nur Geräuschkulisse sein und verpufft irgendwann. In den meisten Fällen gehen die Leute ein paar Mal auf die Straße und dann schläft das Ganze ein. Manchmal gibt es aber Verdichtungen und die zeigen unter Umständen Probleme an, die von der etablierten Politik vorher nicht wahrgenommen wurden.

Bedeutet das, US-Präsident Trump kann die Proteste auch einfach aussitzen?

Solange der Eindruck vorherrscht, dass die Welle des Protests irgendwann versandet, muss man nicht reagieren. Aber das ist für die Politik vorab schwer zu kalkulieren. Und manchmal ist auch das Nicht-Reagieren ein Stimulus für diejenigen, die sagen: „Dann müssen wir noch einmal einen Gang zulegen.“ Dies kann entweder darin münden, dass die Proteste noch größer werden oder dass sie radikaler werden.   

Sehen wir gerade einen Wandel in der Protestkultur der Jugend?

In ihren Einstellungen sind die Jugendlichen relativ stabil. Deutliche Schwankungen gibt es aber bei einzelnen Themen. Der Protest gegen den Irakkrieg 1991 war beispielsweise stark von Jugendlichen bestimmt – das hat man schon wieder vergessen. Ich würde mich nicht wundern, wenn es in Zukunft wieder ein verstärktes, sichtbares Engagement von Jugendlichen gibt. Gerade wenn wir uns die letzten Jahrzehnte in der Bundesrepublik vor Augen halten, gibt es zu viel Routine – zu viel Leerlauf, zu viel Kleinklein. Dadurch entsteht zunehmend der Eindruck, wir bräuchten eine Vision. „Wo soll es insgesamt hingehen?“ Auf diese Weise kann sich ein gewisses Unbehagen aufstauen, das sich dann auf die eine oder andere Weise Bahn bricht.

Mit Dieter Rucht sprach Judith Görs



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