So schädlich wie 15 Zigaretten: Eine globale Einsamkeitswelle plagt junge Menschen

Einsamkeit ist längst nicht mehr nur ein Problem älterer Menschen. Immer mehr Jugendliche sind einsam, auf der ganzen Welt. Wer isoliert ist, wird schneller krank – und ist anfälliger für Extremisten.

Instagram, Whatsapp, Snapchat, Youtube oder Tiktok: Jugendliche in Deutschland verbringen immer mehr Zeit im Internet. Fast drei Stunden sind die 16- bis 18-Jährigen jeden Tag online, geht aus einer Bitkom-Studie hervor. Je älter, desto mehr Zeit verbringen sie im Internet, vorwiegend mit Chatten und Streaming.

Obwohl junge Menschen per Social Media auf allen Kanälen vernetzt sind, sind sie gleichzeitig auch so einsam wie nie. Sie haben hunderte Follower, schreiben dutzende Nachrichten am Tag – echte Freunde haben sie aber kaum.

Vor allem seit der Pandemie fühlen sich immer mehr junge Menschen einsam. Vor Corona war jeder siebte der unter 30-Jährigen „manchmal einsam“, hat der Thinktank Progressives Zentrum in einer Studie herausgefunden. Während der zweiten Corona-Welle war es dann schon knapp jeder zweite Jugendliche und junge Erwachsene. Damit fühlt sich keine Altersgruppe so einsam wie die 18- bis 29-Jährigen.

„Wir denken häufig an alte Menschen, wenn wir über das Thema Einsamkeit sprechen“, sagt Michelle Deutsch, Projektmanagerin beim Progressiven Zentrum, im ntv-Podcast „Wieder was gelernt“. Einsamkeit bei jungen Menschen werde häufig vernachlässigt.

Pandemie der Isolation

Ähnlich geht es Jugendlichen und jungen Erwachsenen weltweit. Die Corona-Pandemie hat das Problem noch verschärft: Vor ihrem Beginn waren in der EU vor allem ältere Menschen von Einsamkeit betroffen, steht in einer Studie des wissenschaftlichen Dienstes der EU-Kommission. Allein von April bis Juli 2020 stieg der Anteil der einsamen 18- bis 25-Jährigen auf 36 Prozent, eine Vervierfachung.

Woran liegt das? Einen großen Anteil haben Social Media und Smartphone-Nutzung, sie fördern die Einsamkeit. Zwei US-Psychologen haben in einer Studie einen Zusammenhang herausgestellt. Waren Smartphonezugang und Internetnutzung in Schulen hoch, war es auch die Einsamkeit. In den sechs Jahren nach 2012 sind die Zahlen demnach dramatisch angestiegen. In Europa, Lateinamerika und den englischsprachigen Ländern verdoppelten sie sich etwa, und in den ostasiatischen Ländern stiegen sie um etwa 50 Prozent. Die Autoren empfehlen deshalb, Smartphones in Schulen zu verbieten.

Ein Grund dafür liegt auf der Hand: wenn jeder immer überall auf sein Handy schaut, werden zufällige Begegnungen seltener. Wer immer am Handy klebt, vernachlässigt seine Freundschaften im echten Leben. Chats bleiben meist oberflächlich, Onlinekontakte brechen schneller ab.

Einsam in der Gruppe

„Vor allem die Pandemie hat es noch mal gezeigt, wie stark vor allem junge Menschen von den Auswirkungen der großen Pandemie betroffen waren: Schulschließungen, der Wegfall von Freizeitangeboten – das hat sie in ihrer Lebensrealität deutlicher getroffen“, erläutert Expertin Deutsch.

Das Risiko, einsam zu werden, ist bei Geringverdienern, Menschen mit niedrigem Bildungsstand und Menschen mit Migrationshintergrund höher, geht aus der Studie des Progressiven Zentrums hervor. Michelle Deutsch formuliert es so: Wem das Geld fehlt, mit Freunden Kaffee trinken zu gehen, der bleibt zu Hause und ist dort einsam.

Dabei muss man aber unterscheiden zwischen Einsamkeit und Alleinsein. Wer einsam ist, fühlt sich anderen Menschen nicht nah, hat das Gefühl, zu wenige Kontakte zu haben. „Einsamkeit ist an der Stelle nicht nur das Gefühl, sich allein zu fühlen, sondern keine Person zu haben, auf die man bauen kann, auf die man sich verlassen kann. Man hat das Gefühl, nicht in eine gesellschaftliche Gruppe eingebunden zu sein“, erklärt Deutsch im „Wieder was gelernt“-Podcast.

Wer allein wohnt und niemanden trifft, ist vielleicht allein, aber nicht zwangsläufig einsam. Man kann in einer Beziehung sein und viele Freunde haben, sich aber trotzdem einsam fühlen. Sogar in einer großen Gruppe: „Man fühlt sich nicht zugehörig zu den Menschen, die um einen rum sind. Man hat das Gefühl, man hat keinen Anschluss an seine Klassenkameraden. Das ist wahrscheinlich noch viel, viel bedrückender.“

Einsamkeit erhöht Krankheitsrisiko

Rat und Nothilfe bei Suizid-Gefahr und Depressionen

  • Bei Suizidgefahr: Notruf 112
  • Deutschlandweites Info-Telefon Depression, kostenfrei: 0800 33 44 5 33

  • Beratung in Krisensituationen: Telefonseelsorge (0800/111-0-111 oder 0800/111-0-222, Anruf kostenfrei) oder Kinder- und Jugendtelefon (Tel.: 0800/111-0-333 oder 116-111)
  • Bei der Deutschen Depressionshilfe sind regionale Krisendienste und Kliniken zu finden, zudem Tipps für Betroffene und Angehörige.
  • In der Deutschen Depressionsliga engagieren sich Betroffene und Angehörige. Dort gibt es auch eine E-Mail-Beratung für Depressive.
  • Eine Übersicht über Selbsthilfegruppen zur Depression bieten die örtlichen Kontaktstellen (KISS).

Einsamkeit ist viel mehr als nur ein ungutes Gefühl. Sie kann krank machen. Soziale Isolation kann so schädlich sein wie 15 Zigaretten am Tag, steht in einer aktuellen Studie. Sogar größer als die Auswirkungen von Fettleibigkeit und Bewegungsmangel. Wer einsam ist, hat demnach ein höheres Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Demenz, Schlaganfälle, Depressionen und Angstzustände. Die WHO sieht einsame Menschen auch einem höheren Suizid-Risiko ausgesetzt. Das Risiko dafür sei so hoch wie oder höher als das Todesrisiko durch Tabakkonsum, Fettleibigkeit oder Luftverschmutzung.

Einsame und sozial isolierte Kinder und Jugendliche können Depressionen bekommen, steht in der Studie des Progressiven Zentrums. Und es hat noch eine Folge ausgemacht: Einsamkeit ist schlecht für die Demokratie. „Das Gefühl, einsam zu sein, macht einen abholbereit für extreme Einstellungen und vor allem auch für rechtsextreme Einstellungen“, so Deutsch. Einsame Jugendliche neigen eher zu einer Verschwörungsmentalität und sind offen für politische Gewalt.

Einsamkeit ist dort weiter verbreitet, wo es weniger Grünflächen und Freizeitangebote gibt. „Wenn Orte wegfallen, an die ich mich wenden kann, bin ich einfacher zu erreichen, einfacher ansprechbar für Menschen, die sich als Kümmerer anbieten und auch eine eigene politische Agenda damit verbinden“, berichtet Deutsch.

Wichtig für die Jugendlichen, damit sie nicht abrutschen, sind mehr direkte Angebote vor Ort, empfiehlt die Expertin – mehr Prävention und Aufklärung. Das Bundesfamilienministerium arbeitet seit vergangenem Jahr an einer Strategie gegen Einsamkeit. Großbritannien hat das Problem schon früher angepackt: Als erstes Land der Welt hat es 2018 ein Ministerium für Einsamkeit ins Leben gerufen.

„Wieder was gelernt“-Podcast

„Wieder was gelernt“ ist ein Podcast für Neugierige: Warum wäre ein Waffenstillstand für Wladimir Putin vermutlich nur eine Pause? Warum fürchtet die NATO die Suwalki-Lücke? Wieso hat Russland wieder iPhones? Mit welchen kleinen Verhaltensänderungen kann man 15 Prozent Energie sparen? Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein wenig schlauer.

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