„Bei Zwölfjährigen ist oft nichts mehr zu retten“

SPIEGEL ONLINE: Herr Albert, Sie zeichnen in der
Shell-Jugendstudie das Bild von einer leistungsbereiten Jugend, die zufrieden ist mit ihren Eltern und sich wieder politisch interessiert, ohne zu rebellieren. Kommt da die Generation brav?

Mathias Albert: Nein, die Jugendlichen sind keine neukonservativen Biedermänner. Sie kombinieren klassische Werte der Achtundsechziger wie Selbstverwirklichung mit konservativen Einstellungen zu Familie und Freundschaft. An ein geschlossenes Wertesystem oder Weltbild glauben sie schon lange nicht mehr, an Ideologien auch nicht. Sie versuchen sich in einer Gesellschaft zu behaupten, die ihnen ziemliche schlechte Bedingungen bietet. Erstaunlich ist in der Tat, dass sie dagegen kaum rebellieren.

SPIEGEL ONLINE: Wobei es in den vergangen Monaten
viele Proteste an Unis und Schulen gab gegen straffe Lehrpläne, überfrachtete Studiengänge und wachsenden Leistungsdruck.

Albert: Diese Proteste gingen kaum über die Hochschulen hinaus und richteten sich vor allem gegen Studiengebühren. Das war nur ein kleiner Teil der Studenten, wenn man genauer hinschaut.

SPIEGEL ONLINE: In vielen Städten gingen Tausende auf die Straße.

Albert: Es gingen viele auf die Straße, aber es war keine Jugendbewegung. Der Großteil der Jugendlichen reagiert auf den ständig steigenden Leistungsdruck bislang sogar positiv; sie nehmen ihn an, sind leistungsbereiter und schauen optimistischer und zufriedener in die Zukunft als noch vor vier Jahren bei unserer letzten Studie – trotz Wirtschaftskrise. Das hat auch mich überrascht.

SPIEGEL ONLINE: Dass der Druck gestiegen ist, das merken die Jugendlichen aber schon?

Albert: Sicher, sie wissen, dass sie mehr bringen müssen. Allein im Bildungswesen gibt es eine Inflation an Bildungstiteln, etwa bei Bachelor und Master. Niemand weiß mehr, wie viel er leisten muss, um später halbwegs sicher zu sein. Deshalb bauen die Jugendlichen sich ein Wertefundament. Und sie resignieren eben nicht, ihr Optimismus ist nicht aufgesetzt. Sie wissen, dass es Probleme gibt, aber sie glauben an sich und ihre Fähigkeit, sie zu lösen.

SPIEGEL ONLINE: Noch mehr Druck heißt aber doch nicht noch mehr Zuversicht?

Albert: Nein, das ist kein kausales Gesetz. Das wird so nicht weitergehen – im Gegenteil. Unsere Studie zeigt, dass wir am Beginn einer Repolitisierung der Jugend stehen. Diese politischere Generation wird sich ihre Themen suchen. Wir können nur spekulieren, um welche Themen – Bildung, Umwelt, Kernkraft oder etwas ganz anderes – es sich drehen wird.

SPIEGEL ONLINE: Das Ende der Politikverdrossenheit?

Albert: Jedenfalls liegt dort ein ungeheures Potential an politischer Aktivität. Allerdings werden Parteien und andere traditionelle Institutionen erst einmal nicht davon profitieren. Das Ansehen der Parteien ist so schlecht wie seit Jahren – diesmal nur noch unterboten von den Banken. Nach denen haben wir allerdings auch zum ersten Mal gefragt, weil es uns nach der Finanzkrise interessiert hat.

SPIEGEL ONLINE: Die Jugendlichen sind nicht rebellisch, aber sie wollen sich engagieren – wie?

Albert: Insgesamt ist bei 77 Prozent der Jugendlichen die Bereitschaft zu politischen Aktionen vorhanden oder sogar hoch oder sehr hoch – das reicht vom Unterschreiben einer Unterschriftenliste bis hin zur Teilnahme an Protesten. Das kann aber auch das Boykottieren von Waren sein.

SPIEGEL ONLINE: Zuversicht, Leistungsbereitschaft, politisches Interesse – all das gilt allerdings nicht für Jugendliche aus bildungsfernen Familien.

Albert: Ja, bei fast allen Themen lässt sich feststellen:
10 bis 15 Prozent sind abgehängt. Und es scheint, als wüssten diese Jugendlichen selbst, dass ihre Chancen vom Elternhaus abhängen: Nur wenige dieser abgehängten Jugendlichen sagen, sie würden ihre Kinder so erziehen, wie ihre Eltern es getan haben. Hier ist die Kluft markant: Denn drei Viertel aller Jugendlichen sehen das anders.

SPIEGEL ONLINE: Was lässt sich tun, um die soziale Kluft zu verkleinern?

Albert: Bei Zwölfjährigen ist oft nichts mehr zu retten – und erst bei dieser Alterskohorte setzt unsere Studie an. Da kann schon alles zu spät sein und es lässt sich nur noch an Symptomen herumdoktern. Wichtig ist die frühkindliche Bildung. Die Elternhäuser geben ihren Kindern nicht die nötigen Kompetenzen mit auf den Weg, teils aus mangelndem Willen, teils aus Unvermögen. Hier müssen wir ansetzen.

SPIEGEL ONLINE: Schule kann also kaum noch etwas ausrichten?

Albert: Sie kann versuchen zu reparieren. Und deshalb fordere ich seit langem, dass mehr Geld in die Hauptschulen fließen muss. Wir dürfen nicht darauf warten, dass sich 16 Bundesländer auf ein nachhaltiges Schulsystem einigen. Darauf warten wir seit Jahrzehnten und es wird noch einmal Jahrzehnte dauern. Die abgehängten Hauptschüler sind aber jetzt da, sie brauchen jetzt Unterstützung.

Das Interview führte Oliver Trenkamp

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