Kolumne von Oskar Beck: Warum die Kanzlerin nicht Torwart wurde


Kolumne von Oskar Beck Warum die Kanzlerin nicht Torwart wurde Blackout: Liverpools Torwart Loris Karius lässt Bales Fernschuss zum 3:1 für Real passieren.

Loris Karius vom FC Liverpool ist der vorläufig letzte Beweis: Der Beruf auf der Torlinie ist ein Tanz auf der Raserklinge, schreibt unser Kolumnist Oskar Beck.

Kiew – Fußballdeutschland steht dieser Tage vor der ­großen  T-Frage: Wer soll bei der WM unser Tor ­hüten?

Stellvertretend für den verletzten Manuel Neuer stand ein Jahr lang Marc-Andre Ter Stegen im Kasten, und das weltmeisterlich. Bei seinem Arbeitgeber FC Barcelona wird er sogar schon mit der dortigen Zaubermaus verglichen, die Zeitung „Marca“ schwärmt: „Er ist der Lionel Messi mit Handschuhen – auch er gewinnt Spiele.“

Aber ist ihm womöglich auch zuzutrauen, ein Spiel zu verlieren?

Ter Stegens Problem ist, dass er jetzt wieder Neuer im Nacken hat, dem das nie passiert. So was schafft Vertrauen. „Manu ist halt Manu“, hat Innenverteidiger Jérôme Boateng jüngst verraten, angesichts der Ausstrahlung des alten Kameraden hingerissen die Augen verdreht und gesagt: „Es ist schon ein Unterschied, ob Manuel Neuer im Tor steht oder ein anderer.“

Boateng weiß, wovon er spricht. Beim FC Bayern wurde Neuer die ganze Saison bravourös von Sven Ulreich vertreten – aber als es am Ende in der Champions League um die goldene Ananas ging, hat der frühere VfB-Torwart in Madrid mit einem grotesken Bock geschwind alle Bayern-Träume beendet.

Was ist schwerer: Trainer oder Torwart?

Jupp Heynckes hat als Bayern-Trainer einmal behauptet: „Mein Job ist der zweitschwerste im Land, hinter dem der Kanzlerin.“ Das kann so leichtfertig nur einer sagen, der nie Torwart war. Denn Torwart ist viel brutaler. Torwart kommt von Tortur. Ulreich hat Heynckes nach seinem grässlichen Patzer gegen Real garantiert aufgeklärt, dass er lieber Kanzlerin wäre.

Dank Loris Karius, einem anderen früheren VfB-Jugendnationaltorwart, ist der Albtraumjob zwischen den Pfosten nun vollends in die höchstmögliche Dimension vorgestoßen. Vor der komplett zuschauenden Fußballwelt unterliefen dem Schlussmann des FC Liverpool im Finale der Königsklasse gleich zwei Blackouts an einem Abend, den er nie mehr vergessen wird – eher vergisst er einmal seinen Hochzeitstag, falls ihn überhaupt noch eine nimmt.

Karius kommt aus Biberach an der Riss, was seinen doppelten Filmriss aber auch nicht erklärt. Wie ein übereifriger Kellner servierte er dem torhungrigen Realstürmer Karim Benzema auf dem Tablett den Ball (wie neulich schon Ulreich), und den harmlosen Fernschuss von Gareth Bale hätte sogar die Kanzlerin notfalls lässig mit dem offenen Ausschnitt aufgefangen. Am Ende fiel Karius als heulendes Elend ins Gras, Kopf nach unten.

Torhüter wollen nicht mehr stehen in solchen Momenten, sie graben sich ein. Oder lehnen sich mit dem Rücken an den Pfosten wie Oliver Kahn nach dem WM-Endspiel 2002 in Yokohama, regungslos, leerer Blick. Es war damals gut, dass ihm keiner einen Revolver reichte, er hätte sich die Kugel gegeben, im Rahmen des würdigen Heldentods. Was hatte er zuvor für ein Turnier gespielt, als „Faust Gottes“ wurde er bejubelt. King Kahn, der Titan, der Gigant, ohne ihn wären wir schon nach der Vorrunde wieder heimgeflogen, Holzklasse. Und dann das: Der beste Torwart der Welt verlor das WM-Endspiel, er klatschte den Ball tölpelhaft vor die Füße des Brasilianers Ronaldo. „Es wird mich ein paar Tage quälen“, sagte Kahn.

Torhüten ist Extremsport

Ein paar Tage? Für ein langes Leben reicht so ein Albtraum: Man fängt ein Spiel als Torwächter an und beendet es als Nachtwächter. „So ist das Leben des Torwarts“, sagt jetzt auch Karius. Torhüten ist nicht Fußball, sondern Extremsport. Wie Bergsteigen. Die Luft ist dünn, der Grat schmal und der Tormann einsam – empfehlenswert ist dieser Job nur für Extremisten, Eigenbrötler, Einzelkämpfer oder Egoisten. Ein Torwart ist geimpft mit dem Vitamin E der Einzelhaft. Seine Zelle ist ein 7,32 Meter breiter und 2,44 Meter hoher Käfig ohne Bett, denn schlafen darf er keine Sekunde. Ein Fehler, und du bist der Depp. Zwei Fehler, und du kannst dich wegwerfen.

Was hat Karius nach seinem schwarzen Abend getan auf der verzweifelten Suche nach der inneren Balance, hat er sich fünf Biere hinter die Binde gegossen, im Hotel den Fernseher aus dem Fenster geworfen oder sich das Du entzogen? Man weiß, dank Olli Kahn, nur so viel: „So ein Spiel kann eine Karriere zerstören.“

Torhüten ist ein Tanz auf der Rasierklinge. Einem Torwart im modernen Fußball wird allerhand abverlangt. Die Null muss stehen, und darüber hinaus muss er möglichst beidfüßig zaubern, das Spiel eröffnen, Steilpässe schlagen und als Libero Konter abfangen – aber vor allem mit den lähmenden Gedanken nach schwerwiegenden Fehlern klarkommen. Nur die Hartgesottenen schaffen das alleine. Die Sensibleren müssen gegossen werden wie eine Blume, sonst gehen sie ein.

Wer neulich die Bilder dieses einsamen Menschen gesehen hat, vergisst sie nie: Karius zwang sich, irgendwann wieder aufzustehen, und nur zaghaft wagte er sich in die Kurve der Liverpooler Fans, mit betenden Händen, mit flehenden Händen: Vergebt mir.

Kommt Becker vom AS Rom?

Aber fürs Verzeihen ist der Fußball für viele Fans zu wichtig geworden, der Trost für Loris Karius fällt deshalb jetzt sparsamer aus als die Häme und der Spott, von Morddrohungen hört man, die Revolverpresse streckt den armen Tropf für seine Slapstick-Einlagen bereits mit Salven ihres berüchtigten britischen Humors nieder, und vermutlich werden ihm die Liverpooler in der neuen Saison den momentan noch beim AS Rom beschäftigten brasilianischen Nationaltorwart Alisson Becker vor die Nase setzen.

Becker, heißt es, hat Nerven wie Stahlseile. Und sein Körper ist aus Hartholz geschnitzt, also für die einen angsteinflößend und für die anderen vertrauenerweckend. Das ist diese Ausstrahlung, die auch Boateng meint, wenn er von Manuel Neuer spricht, und die Bundestrainer Jogi Löw sagen lässt: „Wenn Neuer fit und bei der WM dabei ist, spielt er auch.“ Wer einmal so weit ist, hat es als Torwart geschafft. Aber der Weg zum Traumjob kann lang und brutal sein. Loris Karius wäre im Moment lieber Kanzlerin. –

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