„Mein Kind ist weg“


Ein kalter Sonntagnachmittag. Es ist Ende April, mitten im Lockdown. Die Grenzen sind geschlossen. Auch meine ungarische Oma in Budapest kann ich derzeit nicht besuchen. Wir versuchen diese endlos langen Tage mit Skype Calls zu überbrücken. So kommt es immer häufiger vor, dass meine Großmutter in die Vergangenheit schweift und uns Geschichten von früher erzählt. Besonders viel sprechen wir über meine erst kürzlich verstorbene Urgroßmutter. Dédi nannten wir sie, eine ungarische Abkürzung für Uroma. „Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht an sie denke“, gesteht meine Oma. Auch ich bin in Gedanken viel bei meiner Urgroßmutter, sehe sie noch vor mir stehen, habe ihr duftendes Parfum in der Nase.

Besonders über Dédis Vergangenheit denke ich oft nach, auch wenn sie kaum über die Zeit im Krieg gesprochen hat. Immer wieder erinnert mich meine Oma an die Kassetten. Als Dédi noch lebte, war ich zu jung, um über ihre Zeit während des Nationalsozialismus zu sprechen. Also beschloss sie eines Tages, all das, was sie erlebt hatte, auf ein Tonband zu sprechen. Das sind die Kassetten, über die meine Oma immer spricht. „Sobald dieser Wahnsinn ein Ende hat, kommst du nach Budapest“, stellt sie klar. „Die Geschichte wartet hier auf dich, in einem alten Umschlag, sicher aufbewahrt und versiegelt.“

„Ja, du bist jüdisch“

Meine ungarische Urgroßmutter war Jüdin, im Zweiten Weltkrieg wurde sie von den Nazis verfolgt und in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Schon immer hat mich ihre nicht in Worte zu fassende, grausame Vergangenheit brennend interessiert. Doch erst jetzt verspüre ich einen richtigen Drang, mehr zu erfahren. An jenem regnerischen Sonntagnachmittag erzählt mir meine Oma von ihren jüdischen Wurzeln und wie sie christlich getauft wurde, um der Verfolgung zu entkommen. Trotz allem ist sie, nach jüdischem Gesetz, der Halacha, unverändert eine gebürtige Jüdin. „Was hat das zu bedeuten? Bin ich dann streng genommen auch jüdisch?“, platzt es aus mir heraus. „Der jüdische Glaube besagt, dass das Judentum immer mütterlicherseits weitergegeben wird. Ja, du bist jüdisch.“ Mir verschlägt es die Sprache. Auf einmal öffnen sich vor mir die Tore einer völlig neuen Kultur, ich tauche in eine Welt, von der ich bisher kaum etwas wusste. Was ist Judentum? Koscher, was heißt das eigentlich? Judentum damals und heute, hat sich da was geändert? „Was bedeutet Judentum eigentlich für dich?“, möchte ich von meiner Großmutter wissen. „Für mich ist Judentum gemeinsames Schicksal. Was wir zusammen erlebt haben, durchgemacht haben, diese Verbundenheit spielt für mich persönlich die zentrale Rolle im Judentum. Unsere gemeinsame Vergangenheit und die gegenseitige Empathie sind das, was uns alle vereint.“

„Oft müssen wir uns rechtfertigen“

Auch von dem ungarischen Universitätsprofessor und strenggläubigen Juden Gábor Balázs möchte ich wissen, was er mit jüdischem Leben verbindet. „Judentum ist für mich so vieles zusammen: Nicht nur der Glaube ist im Vordergrund, sondern auch Kultur, Gemeinschaft, Gefühle, Tradition und ganz besonders Familie. Wichtig ist: Wir Juden haben nicht alle dieselbe Batterie! Nur weil wir einer Religion angehören, heißt das nicht, dass wir alle aus demselben Holz geschnitten sind. Oft müssen wir uns rechtfertigen, den Fragen stellen: Wer bist du? Welcher Nationalität gehörst du an? Warum sollte dies bei uns eine andere Rolle spielen als bei Christen, Muslimen oder Buddhisten? Wir sind so wie alle anderen auf dieser Welt auch – einfach nur Menschen. Menschen mit verschiedenen Prioritäten und Hintergründen, es gibt arme Juden, es gibt reiche Juden, jeder hat seine individuelle Geschichte, jeder hat seine individuelle Persönlichkeit.“

Sie können mehr von den nachrichten auf lesen quelle

Weer

Weather Icon
background