Neues Schulfach Wirtschaft: Kritiker schlagen Alarm

Neues Schulfach Wirtschaft: Kritiker schlagen Alarm

Beim Wirtschafts- und Finanzwissen deutscher Schüler hapert es entschieden. Mit einem neuen Pflichtfach Wirtschaft will Baden-Württemberg 2016 gegensteuern. Weil aber die Stiftung eines großen Verlegers mit im Unterrichts-Boot sitzt, warnen Experten vor einseitiger Lobbyarbeit.

Von Ökonomie und Finanzen haben viele Jugendliche in Deutschland kaum eine Ahnung. Eine aktuelle Jugendstudie des Bundesverbandes deutscher Banken zeigt: Vier von zehn Schülern haben schlechte oder gar keine Wirtschaftskenntnisse.

Doch es gibt einen Hoffnungsschimmer. Rund ein Drittel der Befragten interessiert sich demnach stark für wirtschaftliche Themen. Und die große Mehrheit (81 Prozent) wünscht sich mehr davon im Unterricht, 73 Prozent explizit ein eigenständiges Schulfach Wirtschaft. An der Analyse der GfK Marktforschung im Auftrag des Bankenverbandes haben 651 repräsentativ ausgewählte 14- bis 24-Jährige in Deutschland teilgenommen.

Neues schulformübergreifendes Pflichtfach

Ein grundsätzliches Problem ist: Bildungspolitik ist hierzulande Ländersache und wird entsprechend unterschiedlich gehandhabt. Baden-Württemberg will 2016 vorangehen: Im Südwesten soll in Werkrealschulen, Realschulen und Gemeinschaftsschulen ab Klassenstufe sieben sowie im Gymnasium ab Klassenstufe acht das neue Pflichtfach „Wirtschaft, Berufs-und Studienorientierung“ auf dem Stundenplan stehen.

Ziel des Vorstoßes sei, „dass junge Menschen die verschiedenen Akteure im Wirtschaftsleben kennen und wirtschaftliche Zusammenhänge in der Gesellschaft besser verstehen, kritisch hinterfragen und einordnen können“, erklärt das Kultusministerium. Außerdem sollen Schüler besser bei der Berufswahl unterstützt werden. Es geht also um die Vermittlung eines grundlegenden Verständnisses für die Zusammenhänge in der Wirtschaft bis hin zu einer Einschätzung von Finanzprodukten.

Unterstützung bei Berufs- und Studienwahl

Neu ist ein Schulfach Wirtschaft nicht. Die Experten des Instituts für Ökonomische Bildung (IÖB) an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg schreiben in einer Stellungnahme: Das Fach gebe es in Niedersachsen seit zehn Jahren, ebenso in Bayern, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern und auch in Baden Württemberg. Ein Novum sei lediglich die „flächendeckende und einheitliche Einführung an allen Schulformen des allgemeinbildenden Schulwesens“. Schon in den 1970er Jahren sei in Nordrhein-Westfalen ein Fach Wirtschaftslehre gelehrt worden, das dann durch das Fach Sozialwissenschaften abgelöst worden sei. Das IÖB lobt dennoch die „eindeutige Verankerung der Berufs- und Studienorientierung im Fächerkanon“.

Banker springen in die Lücke

Wo an den Schulen bisher noch zu wenig wirtschaftliches Wissen vermittelt wird, springen Finanzinstitute in die Lücke und informieren etwa in Berufsschulen über die richtige Geldanlage – wie der Vermögensverwalterverband VuV. Die Deutsche Bank wiederum bietet im Rahmen der „Initiative finanzielle Allgemeinbildung“ nach eigenen Angaben mehr als 1300 Referenten an, die mit Schülern über Wirtschafts- und Finanzthemen sprechen und Situationen aus ihrem Bankalltag schildern. Die Jugendstudie des Bankenverbandes belegt aber, dass das nicht ausreicht.

DGB kritisiert lebensferne Bildungspläne

Massive Kritik an der Neuerung in Baden-Württemberg kommt von den Gewerkschaften. Im Mittelpunkt der vorgelegten Bildungspläne stünden noch immer modellhafte ökonomische Denkschemata – ohne an die konkrete Lebenssituation der Jugendlichen anzuknüpfen, sagt etwa Nikolaus Landgraf, DGB-Landesvorsitzender in Baden-Württemberg.

So fehlt nach Ansicht des DGB in dem Lernplan vor allem eine wirklichkeitsnahe Darstellung von Unternehmen, außerdem erschienen die Anforderungen der Arbeitswelt als unabänderlich. Schüler sollten aber gerade lernen, dass soziale Kontexte veränderbar seien.

Hingegen würden Unternehmerpersönlichkeiten und Unternehmertum breiten Raum einnehmen, obwohl sich Schulabgänger selten schon in jungen Jahren selbstständig machten. Das Fazit des DGB: Der Eindruck einer Imagekampagne sei naheliegend.

Experte rügt Unterrichtsmaterial vom „Handelsblatt“

Ein weiterer kritischer Aspekt: Starker Unterstützer des baden-württembergischen Vorhabens ist die Stiftung des Verlegers Dieter von Holtzbrinck. Sie plädiert für Wirtschaft als Schulpflichtfach, lässt etwa in ihrer Broschüre „Wirtschaft verstehen lernen“ Schüler zu Wort kommen, die positive Erfahrungen mit dem Wahlfach Wirtschaft gemacht haben. „Wir haben zum Beispiel eine Schülerfirma gegründet“, erzählt darin eine Jugendliche. Das Produkt: Unterwäsche mit Schiller-Zitaten darauf. Für das Startkapital hätten die Jugendlichen ihren Verwandten Aktien verkauft – und mit der Unterwäsche am Markt schließlich guten Umsatz gemacht: „Am Ende konnten wir jedem Aktionär eine Dividende von 2,50 Euro pro Aktie auszahlen“, wird die junge Frau zitiert.

Lehrbroschüren mit „marktliberaler Ausrichtung“

Der Haken daran: Zu den Holtzbrinck-Medien gehört auch das „Handelsblatt“, das Material für die Unterrichtseinheit „Handelsblatt macht Schule: Unsere Wirtschaftsordnung“ in den baden-württembergischen Klassenzimmern liefern soll. Till van Treeck, Professor für Sozialökonomie an der Universität Duisburg-Essen, hat dieses unter die Lupe genommen. Sein Urteil fällt äußerst skeptisch aus: „Die Darstellung wirtschaftspolitischer Debatten ist in weiten Teilen als einseitig zu bewerten. In der Gesamtschau ist die Materialiensammlung durch eine marktliberale Ausrichtung geprägt.“

Der Ökonom bemängelt zudem die einseitige, unkritische Ausrichtung der Unterrichtseinheit. „Moralisch inspirierte Kritik an sozialer Ungerechtigkeit“ werde nur vereinzelt präsentiert. Die benutzten Statistiken bewertet van Treeck zum Teil sogar als irreführend.

Neuer Lehrstuhl zur Lehrerausbildung in Tübingen

Anlass zu Kritik gibt ein weiterer Aspekt: An der Tübinger Universität wird zum Wintersemester 2016 eine Professur für Wirtschaftsdidaktik eingerichtet, um Lehrer für den Wirtschaftsunterricht fit zu machen – finanziert von der Holtzbrinck-Stiftung. Das bestätigte Antje Karbe, Pressereferentin der Eberhard Karls Universität Tübingen, auf Nachfrage von t-online.de. Das Berufungsverfahren werde gerade ausgeschrieben.

Kultusministerium bügelt Vorwürfe ab

Hat etwa eine starke Lobby die Bildungspolitik im Südwesten unter ihre Fittiche genommen? Das zuständige Kultusministerium lässt solche Vorwürfe nicht gelten. Im November hat Kultusminister Andreas Stoch gemeinsam mit Vertretern der Arbeitnehmer, Arbeitgeber, der Wohlfahrtspflege, Sozialpartnern und Kammern einen Verhaltenskodex zur Zusammenarbeit von Schule und Wirtschaft unterzeichnet, den sogenannten Code of Conduct.

In einer Pressemitteilung stellte der Minister klar: „Insbesondere bei der Einführung des neuen Fachs Wirtschaft, Berufs- und Studienorientierung legen wir von Beginn an großen Wert darauf, dass die Inhalte ausgewogen und multiperspektivisch dargestellt werden.“ Mit dem Code of Conduct verpflichteten sich alle Bildungspartner ausdrücklich zu Transparenz, Neutralität und Ausgewogenheit. Nur das Interesse der Schülerinnen und Schüler stehe im Mittelpunkt.

Stoch verteidigt den Pakt mit der Wirtschaft: Es sei Aufgabe der Schule, eine gute Informationsgrundlage zu schaffen, damit junge Menschen entscheiden könnten, welcher Beruf, welche Ausbildung oder welches Studium am besten zu ihren Interessen und Begabungen passten. „Hier leisten die Angebote außerschulischer Partner im Rahmen des schulischen Unterrichts einen wichtigen Beitrag“, betont der Minister. Um die Transparenz der Angebote zu gewährleisten, müsse etwa bei Unterrichtsmaterialien ersichtlich sein, wer die Autoren, Herausgeber und Unterstützer des Angebots seien. Produktwerbung oder einseitige Darstellungen in den Angeboten sind demnach nicht erlaubt.

Millionen junge Menschen überschuldet

An allen Schulformen zu lehren, wie Wirtschaft und Unternehmen funktionieren, worauf beim Umgang mit Geld, Bankgeschäften oder Investitionen zu achten ist – der Vorstoß hat sicherlich Berechtigung. Immerhin sind rund 6,7 Millionen Privatpersonen in Deutschland über 18 Jahren überschuldet, besagt der Schuldneratlas 2015 der Creditreform Wirtschaftsforschung. Darunter sind 1,7 Millionen Menschen unter 30 Jahren.

Dass in Baden-Württemberg eine Lobby jedoch deutlich als Sponsor eines Schulpflichtfachs auftritt, hinterlässt trotz aller Neutralitätsversicherung des Kultusministeriums ein „Geschmäckle“. Die Umsetzung des Plans wird weiterhin kritisch beobachtet werden.

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