Transgenerationale Prägungen: Die Kinder der Nachkriegseltern und ihre Kämpfe

Sie haben ihre Kindheit oder Jugend im Zweiten Weltkrieg erlebt, sind nach dem Krieg herangereift, wurden erwachsen und bekamen Kinder. Diese Nachkriegseltern hinterlassen bei den nachfolgenden Generationen Spuren, die oft von einem unstillbaren emotionalen Hunger künden.

Im Keller der Eltern von Beate K. stapeln sich die Kisten, sodass fast kein Durchkommen ist. Auch Wohn- und Schlafzimmer in dem Haus in einer westdeutschen Mittelstadt sind dicht möbliert. Gerade haben sich die Eltern eine neue Küche gekauft. Wenn die Mutter dreier Kinder hier zu Besuch kommt, schläft sie meist anderswo. Und ihr wird bange vor dem Tag, wenn ihre Mutter oder ihr Vater sterben oder vielleicht in ein Pflegeheim umziehen müssen.

K.s Vater und Mutter sind Jahrgang 1940 und 43, im Zweiten Weltkrieg geboren, in den Nachkriegsjahren erwachsen geworden. Sie gehören zu jenen „Nachkriegseltern“, denen die Historikerin Miriam Gebhardt gerade ein eigenes Buch gewidmet hat. Für die Autorin war die Generation auch ihrer eigenen Eltern ein Leben lang auf der Suche nach der Erfüllung von Bedürfnissen. „Die Kinder merken oft, dass die Schränke überquellen mit aufgehobenen Kleidern, Plastiktüten, Schuhen und allen möglichen mehr oder weniger nützlichen Dingen“, erzählt Gebhardt ntv.de. „Dahinter steckt meines Erachtens ihre Ausrichtung auf materielle Sicherheit und Wohlstand.“ Als ließe sich die menschliche Seele für den Kriegs- und Nachkriegsmangel entschädigen.

Gebhardt, die bereits über die Erziehung im 20. Jahrhundert, die deutsche Frauenbewegung, die Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ und die Vergewaltigungen deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkriegs geschrieben hat, bezeichnet „Unsere Nachkriegseltern“ als ihr persönlichstes Buch. Es beginnt mit dem Tod ihres Vaters, der einen Herzstillstand erlitt, bevor er, wie bereits geplant, in ein Altersheim umziehen konnte. „Seither denke ich mehr über mein Leben und das meiner Eltern nach“, schreibt die 60-Jährige und taucht dann tief in die Themen des privaten Lebens der zwischen 1930 und 1945 Geborenen ein.

Gefühl innerer Unbehaustheit

Es geht ums „Lieben, Kinder bekommen, Sexualität, das Gefühl der Verankerung im Leben, das Verhältnis zur eigenen Körperlichkeit“, erzählt die Autorin. Ihre thematische Auswahl sieht sie als offen an, „um weiterzuforschen und zu überlegen“. Für sie selbst war das Gefühl einer inneren und äußeren Unbehaustheit das entscheidende Thema. „Ich habe mich gefragt, warum in Gottes Namen bin ich allein in München in jungen Jahren zwölf Mal umgezogen?“ Gebhardt ist nicht die Einzige in ihrem Freundeskreis, die immerzu auf gepackten Koffern und Kisten sitzt. Und nicht nur sie verbindet das mit dem Schicksal der Eltern im Krieg, „mit den Traumata, Verlusten und emotionalen Defiziten, die sie erlitten haben und die ihre Kinder reparieren sollten“. Bei den Söhnen und Töchter der Nachkriegseltern blieb oft das Gefühl, dass es nie um sie selbst geht, sondern immer nur um die anderen.

Für die Tochter von zwei Psychologen ist es von diesem Gedanken nicht weit bis zum psychologischen Begriff der Parentifizierung. Er beschreibt, wenn die Rollen zwischen Eltern und Kindern umgedreht werden und Kinder verantwortlich für die Fürsorge der Eltern gemacht werden. Manche Eltern erwarten, dass man sich immerzu um ihre Krankheiten kümmert, andere haben ständig Aufgaben für die Kinder oder erwarten regelmäßige Besuche oder Anrufe. „Das hat es den Boomern schwerer gemacht, ihre eigenen Leben zu gestalten“, meint Gebhardt.

„Die Berufswahl, die Wahl des Lebensmodells, eben die grundsätzlichen Lebensentscheidungen sind ein Ergebnis der Sozialisation“, schätzt die Autorin ein. Da habe eine doppelte Last auf dieser Generation gelegen. „Einerseits hat sich die Wirtschaft dynamisiert und es wurde eine ständige Weiterentwicklung und Verfügbarkeit erwartet. Andererseits gibt es dieses familiäre Erbe, das seine Ursache in den Kriegsbrüchen der Biografien der Eltern, aber auch in der Nachkriegszeit hatte.“

Leistungs- und Überlebenswille

Die Nachkommen hatten immer die Mütter und Väter vor Augen, die die Ärmel hochkrempelten und bis zur Erschöpfung versuchten, „sich durch Häuserbau und die Anschaffung aller möglicher Wohlstandsgüter eine neue Verankerung im Leben zu schaffen“. Gebhardt wertet das auch als Folge der NS-Erziehungsideologie. „Die Eltern wurden ja noch in dieser Zeit erzogen und haben diese Erziehungsstile in den Knochen gehabt und teilweise auch noch fortgeführt.“

Hinzu komme die historische Erfahrung, wie wichtig es ist, dass man leistungsfähig ist. In Kriegszeiten könne nur überleben, wer anpacken kann und auch von körperlichen Bedürfnissen unabhängig ist, „der die Zähne zusammenbeißen kann“. Ihr Vater habe immer erzählt, dass er zur Not auch mal mit einer halben Zitrone im Gepäck eine Bergwanderung absolvieren konnte. „Es war ein wichtiges Thema, die körperlichen Grenzen überschreiten zu können.“ Die nächste Generation schwankte dann häufig zwischen Verweigerung und ebenso extremer Leistungsbereitschaft.

Viele Eltern seien einfach mit ihren eigenen uneingestandenen Bedürfnissen so beschäftigt gewesen, dass sie kaum noch Ressourcen hatten, sich um die Bedürfnisse ihrer Kinder zu kümmern. „Deshalb war es gern gesehen, wenn wir Dinge möglichst klaglos allein geschafft haben.“ Wochenlang wurden Kinder ins Ferienlager geschickt. „Und obwohl es da fürchterlich war, haben wir nicht gesagt, das mache ich nicht wieder.“ Selbst wenn es zwischendurch in einer Übergangszeit zwischen zwei Jobs oder während des Studiums schwierig war, versuchten die meisten Boomer, es irgendwie allein hinzukriegen und können sich das bis heute nur schwer abgewöhnen.

Chance zur Aussöhnung

Gebhardt hat für ihr Buch nicht nur die eigenen Erfahrungen und Forschungen genutzt, sondern auch Aufzeichnungen aus dem Deutschen Tagebucharchiv. So habe sie „die Verzerrung durch Erinnerung, Beschönigung oder Rechtfertigung“ begrenzen wollen. „Ich bin da ohne vorher festgelegte Fragen herangegangen und habe einfach Tagebücher der entsprechenden Geburtsjahrgänge bestellt.“ Eingang in das Buch fanden schließlich unter anderem ein Sexualstraftäter aus Niederbayern, der in Sicherungsverwahrung sitzt und immer wieder rechtfertigt, warum er sich als Exhibitionist betätigt. Oder eine bürgerliche Ehefrau, die sich in einen anderen Mann verliebt, das aber nicht zulassen kann, weil in ihrer Vorstellung Liebe, Sexualität und Ehe eins sind.

Die Reaktion der Kinder von Nachkriegseltern war oft ein besonderes Bedürfnis nach Auseinandersetzung mit sich selbst. Das unterscheide sie wesentlich von der Vorgängergeneration, so Gebhardt. „Der Psychoboom der 70er Jahre fiel in eine ganz wesentlich prägende Lebensphase der Pubertät und des jungen Erwachsenseins. Das kam uns zugute, deshalb haben viele nicht einfach wiederholt, was ihre Eltern ihnen als Aufträge mitgegeben haben. Stattdessen gab es die Möglichkeit, das zu reflektieren und auch zu revidieren.“

Inzwischen sind die Boomerkinder von damals selbst schon fast Senioren, viele nähern sich der 60 oder sind es schon. „Ich glaube aus eigener Erfahrung, dass das so ein Moment ist, wo eine Bestandsaufnahme fällig ist“, sagt die Historikerin. Für sie gehe es aber auch um den Ausblick auf das, was man mit den verbleibenden Lebensjahren noch anfangen kann. Die Fragen werden dringender: „Kann ich nie erfüllte Wünsche und Bedürfnisse noch erfüllen? Kann ich mich von bestimmten vorgespurten Wegen verabschieden?“ Ihren Ausdruck findet diese Suche nach Gebhardts Ansicht in den vielen Memoiren, autobiografischen oder Familienromanen. Die intensive Sicht auf die alternden oder schon gestorbenen Eltern ermögliche oft sogar eine Befreiung. „Das ist einerseits so ein Moment des Erschreckens und andererseits ein Moment der Lösung von emotionalen Blockaden, vielleicht auch von Verständnis oder sogar Aussöhnung.“

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