Kinder mit Handy und PC: Eltern neigen zur „digitalen Hysterie“

Internetnutzung und Computerspiele sind in vielen Familien ein Streitthema. Eltern, die ohne Internet und Handy aufwuchsen, fürchten, dass ihre Kinder verdummen und vereinsamen. Doch Georg Milzner, Psychotherapeut und Autor des Buches „Digitale Hysterie“ erklärt im Gespräch mit t-online.de, warum Eltern ihren Blickwinkel ändern müssen.

t-online.de: Der Psychiater Manfred Spitzer zitiert in seinem Buch „Digitale Demenz“ Studien, wonach die sogenannten „Digital Natives“ über eine geringere Frustrationstoleranz und Aufmerksamkeitsspanne verfügen und zu Aggressivität neigen. Er sagt, die Nutzung von Medien lasse die Gehirne unserer Kinder verkümmern. Sie halten dagegen: Eltern und Pädagogen fallen auf die Überreaktion mancher Forscher herein. Woran liegt das?  

Georg Milzner: Die meisten Eltern sind verunsichert, weil sich die Kinder und Jugendlichen mit Dingen beschäftigen, mit denen sie selbst in deren Alter keine Erfahrungen sammeln konnten. Sie sind dann schnell geneigt, das Unbekannte einer gefährlichen Ecke zuzuordnen. 

Die Problemfelder, die Manfred Spitzer nennt, kommen aus unterschiedlichen Gebieten und werden von ihm einfach in einen Topf geworfen. Wenn man sich mit dem Thema beschäftigt, sieht man aber, dass immer mehr Studien in eine ganz andere Richtung gehen.

Computer als solche schaden unseren Jugendlichen nicht. Und so wie es DIE Intelligenz an sich nicht gibt, sondern sich diese aus vielen Aspekten zusammensetzt, so gibt es auch nicht DIE Verdummung. Die Intelligenz unserer Kinder wird anders ausgeformt sein als unsere. Aber das muss kein Fehler sein. Denn auch ihre Welt wird eine andere sein.

Es ist wie immer eine Frage der Dosis. Jemand, der seine Dosis nicht einschätzen kann, der zu viel Zeit am  Bildschirm verbringt, dem fehlen die konkreten Erfahrungen. Das Verhältnis muss stimmen.

In viele Familien gilt es eine sogenannte Mediennutzzeit, über die täglich neu diskutiert wird, weil die Jugendlichen sie unfair finden.

Ich finde, man sollte sich die Jugendlichen hinterher ansehen. Machen sie einen erfüllten Eindruck oder sind sie grantig? Feste Bildschirmzeiten haben wenig Sinn. Es kommt immer darauf an, wie etwas genutzt wird.

Wenn man zum Beispiel mit den Nachbarskindern an der Wii-Konsole boxt, dann ist das eher mit dem Kickern verwandt als mit einem Computerspiel. Ich bin weit davon entfernt, zu sagen, alles, was derzeit auf diesem Gebiet geschieht, sei ungefährlich. Das sind Kulturwandel nie. Aber eine ganze Jugendkultur zu stigmatisieren, wäre unfair.

Wie können Eltern verhindern, dass Jugendlichen ihr Leben durch die Nutzung des Computers entgleitet?

Die wichtigsten Gegenmittel sind Aufmerksamkeit und Teilnahme. Es ist sinnlos, einem 15-Jährigen Computerspiele verbieten zu wollen. Man muss früh anfangen, nämlich wenn die Neugier auf die digitale Welt entsteht – im Grundschulalter. Wenn man teilnimmt, mitspielt, sich etwas zeigen lässt, dann hat man gute Chancen, auf Dauer beteiligt zu werden. Das gilt auch für den 15-Jährigen.

Die Kinder haben das Bedürfnis, uns etwas zu zeigen. Sie sind stolz, auf das, was sie können. Wenn eine 13-Jährige ein Video selbst schneidet und mit Musik unterlegt, hat sie etwas Kreatives getan, möchte das präsentieren und Anerkennung dafür bekommen.

Wissen Eltern gar nicht, wovor sie warnen?

Das ist auf jeden Fall einer der Gründe. Die Angst der Eltern wird künstlich angeheizt. Das ist auch der Grund, warum ich von Hysterie spreche. Bisher kann man in keiner Weise physiologisch belegen, dass wir immer dümmer, immer aggressiver werden.

Wenn es zum Beispiel Zusammenhänge zwischen Amokläufen und entsprechenden Spielen gäbe, müssten die meisten Amokläufe in Italien oder der Türkei passieren. Denn in beiden Ländern liegt die Toleranzschwelle für Gewalt in Spielen deutlich höher als bei uns. Gleichwohl sind Amokläufe dort kein Thema. Interessanterweise steht aber Deutschland weltweit auf Platz zwei, obwohl bei uns die Beschränkungen für Spiele dieser Art viel höher sind.

Das heißt, Eltern können ihre Kinder beruhigt stundenlang am PC spielen lassen?

Natürlich muss man aufmerksam bleiben. Wenn man merkt, dass das Leben an Reichhaltigkeit verliert, weil der Bildschirm zu verlockend ist, sollte man sich einmischen. Aber nicht in Form von Verboten, sondern indem man mitspielt oder sich etwas erklären lässt und Angebote macht. Zum Beispiel nach dem Spiel Situationen daraus zeichnen oder mit Lego nachbauen. 

Für unsere Kinder sind Dinge normal, über die ihre Eltern im Science-Fiction-Comic gestaunt haben. Wobei viele sich damals oft genug anhören mussten, dass Comics nicht gut fürs Gehirn seien. Heute wären viele Eltern froh, ihre Kinder würden überhaupt mal etwas lesen – und wenn es ein Comic wäre.

Interessant ist, dass das Lesen überall gefördert wird. Allerdings sieht man hier auch nicht genau hin, ob es gute oder schlechte Bücher sind. Hauptsache, das Kind hat ein Buch in der Hand. Doch in einer Bibliothek stehen auch nicht nur kluge und gute Bücher herum. 

Das ist bei Computerspielen genauso. Ich habe mich mit vielen Computerspielen auseinandergesetzt. Ich habe körperbezogene Spiele wie Wii-Sport gespielt, bei denen man ins Schwitzen kommt, habe kreative Spiele wie „Minecraft“ gespielt, strategische Spiele, Ego-Shooter und Rollenspiele wie „World of Warcraft“ – ich finde es wichtig, zu sehen, wie unterschiedlich die einzelnen Spiele und deren Auswirkungen sind.

Natürlich kann man sich bei den meisten Spielen darüber aufregen, dass sich körperliche Bewegung und Kreativität in Grenzen halten. Aber das Gleiche könnte man von Brettspielen sagen – Monopoly stand übrigens damals im Verdacht, den Geiz zu schüren und die Empathie zu hemmen.

Warnungen gibt es in der Spielewelt immer dann, wenn der Blick nur auf dem Negativen haftet. Selbst Lego stand in der Kritik, weil es zu eckig war. Und nur wenige, die sich über Computerspiele aufregen und überall Suchtpotenzial wittern, haben tatsächlich einmal tiefer in die Materie geblickt.

Was geht in Ihnen vor, wenn Sie sehen, dass bereits ein Kleinkind von den Eltern mit Smartphone und Tablet beschäftigt wird? 

Wenn ich ein kleines Kind mit einem Handy sehe, würde ich es ihm auch am liebsten aus der Hand nehmen. Gerade bei Kindern bis drei Jahren sind die Bedürfnisse vor allem haptisch. Das heißt, sie möchten Dinge spüren, sie in den Mund nehmen.

Und auch im Alter zwischen drei und fünf Jahren bin ich noch sehr skeptisch, was die Nutzung von Medien angeht. Natürlich kann man sich mal mit einem Dreijährigen ein kurzes Filmchen ansehen, wenn man hinterher gemeinsam etwas baut. Aber viele Eltern stellen ihr Kind einfach nur ruhig.

Bei einem Kind, das über Stunden Computerspiele spielt, ist Alarmiertheit tatsächlich angebracht. Das gilt auch für ältere Kinder. Sprache und Sozialverhalten veröden nicht durch das Spiel, sondern durch das Alleinsein, das Alleingelassenwerden mit dem Spiel.

Es macht also einen Unterschied, ob man im Team spielt oder alleine?

Auch hier muss man differenziert betrachten: Ist jemand stundenlang in Form eines Avatars online vernetzt mit Fremden, dann gilt das gerade für einsame, sehr zurückgezogene Charaktere als besonders heikel. Denn sie haben so das trügerische Gefühl, einer Community anzugehören.  

Gamer, die sich mit Familienangehörigen oder mit Freunden über die Spiele, Regeln und Besonderheiten austauschen, nutzen und üben ihr Sprach- und Sozialvermögen. Sie setzen ihre Sozialerfahrung einfach auf anderem Gebiet fort. Und wenn sie das heute über Skype machen, dann ist das ähnlich dem Telefon, an dem wir früher stundenlang hingen.

Es ist wichtig, dass genügend Sozialkontakte bestehen, dass die Kinder und Jugendlichen im „Real Life“ eingebunden sind. Medienkompetenz ist ein schönes Schlagwort der Epoche, aber in erster Linie muss Selbstkompetenz erlernt werden.

An einem normalen Schultag an einer weiterführenden Schule haben die Jugendlichen, wenn sie mit den Hausaufgaben fertig sind, bereits einen Großteil des Tages mit Medien verbracht. Wie können Eltern sie auf die richtige Mediennutzung vorzubereiten?

Die kulturelle Umrüstung hat teilweise extreme Züge angenommen und man kann ahnen, dass nicht alles gut ist. Wir müssen uns drei Dinge fragen: Wie viel Digitalisierung möchten wir in welchen Bereichen, wie viel digitalfreie Zeit halten wir für wichtig, und wer oder was soll von mir Aufmerksamkeit bekommen?

Nur wenn wir unseren Kindern auf der einen Seite ein Vorbild sind und ihnen auf der anderen Seite uneingeschränkte Aufmerksamkeit schenken, werden wir mit ihnen in Kontakt bleiben. Wir sollten nichts verbieten, was wir uns nicht näher angesehen haben. Wir sollten dafür sorgen, dass sie schon früh Selbstverteidigung im Netz lernen und dass es auch medienfreie Zeiten gibt. So können wir unsere Kinder ihre Erfahrungen mit der digitalen Welt machen lassen, ohne in Hysterie zu verfallen.

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