Psychische Folgen von Corona: Heranwachsende brauchen wieder Normalität

Während anscheinend vieles wieder normal ist, kämpfen viele Heranwachsende mit Angstattacken, depressiven Verstimmungen oder Essstörungen. In ganz Deutschland ist die Nachfrage nach Therapieplätzen für Kinder und Jugendliche enorm gestiegen. Ist die Jugend in der Psychokrise? Und was kann helfen?

Gefühlt ist die Corona-Pandemie vorbei, Kitas und Schulen haben Normalbetrieb, in Sportvereinen läuft das Training, Musikschulen sind wieder geöffnet. Doch vor allem bei Kindern und Jugendlichen werden die psychischen Folgen von Lockdown-Zeiten, sozialer Distanz und Infektionssorgen jetzt erst sichtbar. In einer Erhebung unter ihren eigenen Versicherten kam die Krankenkasse DAK jüngst zu besorgniserregenden Zahlen.

Demnach gab es unter den Neudiagnosen 54 Prozent mehr Essstörungen und 24 Prozent mehr Angststörungen bei Mädchen zwischen 15 und 17 Jahren, 23 Prozent mehr Depressionen bei 10- bis 14-jährigen Mädchen und 15 Prozent mehr Adipositas-Fälle bei Jungen zwischen 15 und 17 Jahren. Die Ergebnisse decken sich weitgehend mit denen anderer Kassen. „Das lässt sich mit immer mehr Zahlen belegen, dass sich hier etwas getan hat“, sagt Prof. Jörg Fegert im Gespräch mit ntv.de. Der Chef der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm kann die aktuellen Zahlen mit verschiedenen Studien vergleichen, in denen schon vor Corona die psychischen Belastungen bei Kindern und Jugendlichen erfasst wurden. Deutlich sieht man vor allem einen Anstieg von Angst- und Depressionssymptomen bei den Heranwachsenden.

Für Fegert lässt sich das nachvollziehbar erklären. Die Zunahme von Ängsten sei zu verzeichnen, „weil soziale Vermeidung ja quasi zum Anti-Pandemie-Programm gehört hat“, sagt er. Wer längere Zeit beispielsweise nicht vor einer Klasse gesprochen habe, sei nun bei einem Referat sehr aufgeregt. In den Krankenhäusern werden zudem mehr Kinder und Jugendliche mit Essstörungen behandelt. Noch nicht klar abzusehen ist, wie es bei den Kinderschutzfällen aussieht. In der Jugendhilfestatistik des Bundes gebe es gleichzeitig einen Anstieg der Kindeswohlgefährdungen und einen Rückgang der gewährten Hilfen, der Inobhutnahmen und Heimunterbringungen. „Da kann man sich ausrechnen, dass da noch viel zu tun sein wird.“

Angehörige der Heilberufe aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie und der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie berichten in ganz Deutschland von einer enorm gestiegenen Nachfrage nach Therapieplätzen. Vielerorts ist das Angebot nicht ausreichend, ohne längere Wartezeiten geht es kaum ab. In den Kliniken sieht es nicht viel besser aus. Auch dort ist der Andrang von Hilfesuchenden derzeit schwer zu bewältigen.

Nicht für alle gleich schlecht

Fegert warnt jedoch davor, von einer allgemeinen Psychokrise unter Heranwachsenden auszugehen. Es gehe keineswegs allen schlechter. „Manche sind sehr stark belastet, während andere ziemlich gut durch die Zeit gekommen sind. Man hat Corona einfach besser in einem Reihenhaus mit Garten überstanden als mit mehreren Personen in einer Drei-Zimmer-Wohnung“, sagt Fegert. Dabei gehe es nicht nur um ökonomische Rahmenbedingungen, sondern auch um alle möglichen Vorbelastungen. Besonders für junge Menschen, die vorher schon Unterstützung brauchten, sei es schwieriger geworden. „Wenn es ein Alkoholproblem, psychische Erkrankungen in der Familie oder häusliche Gewalt gibt, dann war in der Zeit ein Ausweichen oder Entkommen für die Kinder schwerer möglich. Also haben sich diese Effekte verstärkt.“

Familien, die vorher gut zurechtkamen, beispielsweise mit einem Inklusionskind mit Schulbegleitung, hätten an Unterstützung verloren. Jede Familie halte normalerweise eine gewisse Balance, aber wenn ein Stein wegbricht, werde das Ganze instabiler. Fallen sogar mehrere stabilisierende Faktoren weg, wird es schnell prekär. „Dann hängt es an den verbleibenden Ressourcen, beispielsweise Großeltern oder Freunden, damit man noch durchhalten kann“, schätzt der Experte ein.

Als besonders gefährdet erwiesen sich auch Kinder in Übergangsphasen. „Wenn beispielsweise Kinder vom Kindergarten in die Schule gekommen sind, war es schwieriger für sie, in eine neue Gruppe hineinzufinden“, erläutert der Kinder- und Jugendpsychiater. Das gelte genauso für die weiterführende Schule und vor allem für den Übergang ins Berufsleben oder ins Studium.

Krisenerfahrung fehlt

Dass so viele Heranwachsende mit psychischen Symptomen auf die geballte Krise mit Pandemie, Krieg und Inflation reagieren, hat mit mehreren Faktoren zu tun. Die Kinder und Jugendlichen stecken mitten in der Entwicklung, der Austausch mit Gleichaltrigen ist für sie besonders wichtig. Der kam jedoch wegen des eingeschränkten Alltags zu kurz. Stattdessen brachten die Corona-Maßnahmen für viele Vereinsamung mit sich, gesteigerten Medienkonsum und nur wenig Möglichkeiten, der ständigen elterlichen Aufmerksamkeit zu entkommen. Das zeigte bereits eine Erhebung der Bertelsmann-Stiftung 2021 und neben vielen anderen die COPSY-Studie zu den Auswirkungen und Folgen der Covid-19 Pandemie auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Auch Sportangebote zum Ausgleich fehlten.

Zum anderen hat die Belastung mit der kürzeren Lebenszeit zu tun. Heranwachsenden fehlt einfach noch die biografische Erfahrung, dass man Krisen bewältigen kann. Gleichzeitig haben sie selbst viel weniger Gestaltungsspielräume als Erwachsene und sie bekommen deren große Sorgen mit. „Es gibt kaum corona- oder kriegsfreie Zonen, wo gespielt und gelacht werden kann“, beschreibt Fegert die starken Veränderungen. Diese existenziellen Themen habe es in vielen Familien seit Jahrzehnten nicht mehr so allgegenwärtig gegeben. Kinder seien, was emotionale Befindlichkeiten angeht, extrem stark vom elterlichen Vorbild abhängig. „Und wenn die die ganze Zeit vor dem Fernseher sitzen und schauen, was jetzt passiert ist, dann bekommen die Kinder mit, dass die Erwachsenen anders drauf sind als sonst.“

Der erfahrene Kinder- und Jugendpsychiater hält es für wichtig, vor allem in einer Zeit knapper Mittel zu schauen, wie sich Unterstützung bündeln und am besten verteilen lässt. Für den Kompetenzbereich Prävention psychische Gesundheit hat Fegert während der Corona-Zeit Flyer mitentwickelt, die Eltern und Lehrpersonen mit Informationen über mögliche Auffälligkeiten und Hilfsangebote versorgen. Das Sozialministerium Baden-Württemberg gab sie an niedergelassene Ärztinnen und Ärzte weiter. Die Idee dahinter ist der sogenannte Stepped-care-Ansatz. Bei diesen gestuften Ansätzen gibt es manche Angebote beispielsweise als Hinweise für Eltern. Mütter und Väter können mit ihren Kindern selbst einiges tun, damit diese sich wieder mehr trauen oder zutrauen. Oft hilft es schon, nachzufragen, sich über mögliche Ängste auszutauschen oder gemeinsame Erlebnisse anzubieten. „Ich bin sicher, das würde in vielen Fällen schon ausreichen.“ Die teuren Fachbehandlungstermine sollen dann diejenigen bekommen, die sie am nötigsten brauchen.

„Nase wieder rausstrecken“

Die jetzige Krise sieht Fegert auch als Anlass, darüber nachzudenken, ob es wirklich sinnvoll ist, dass Gesundheitswesen und Jugendhilfe häufig nicht zusammenarbeiten. Die Vernetzung der Hilfesysteme gilt schon lange als Schlüssel für einen besseren Schutz von Kindern und Jugendlichen. Seit 2021 ist sie im Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – KJSG) endlich auch als interdisziplinäres Handeln in Feedback-Schleifen festgelegt. Fachkräfte der Heilberufe, der Jugendhilfe und der Familiengerichte können sich durch die rund um die Uhr erreichbare medizinische Kinderschutzhotline miteinander abstimmen. In der Realität gibt es umfassende Kooperation allerdings immer noch zu selten. Fegert hofft hier auf einen ähnlichen Durchbruch, wie es ihn schließlich in Corona bei den Online-Therapien gab. Auch darum hatten Therapeutinnen und Therapeuten jahrelang gekämpft, während der Pandemie wurden sie endlich möglich.

Was vielen Kindern und Jugendlichen jetzt am meisten hilft, ist allerdings nach Ansicht des Kinder- und Jugendpsychiaters das richtige Leben, so wie sie es in der Pandemie zu wenig führen konnten. Dazu gehört der Schulalltag, aber vor allem auch, „wieder rauszugehen, sich mit anderen zu treffen, soziale Kontakte zu pflegen“. Bei vielen sind die sportlichen Aktivitäten eingeschlafen, der Bewegungsmangel ist ein wichtiger Risikopunkt für Übergewicht, was wiederum zu psychischen Problemen führen kann. Das Leben habe auch in der Krise schöne Seiten, die immer noch Spaß machen. „Man wird sich immer an den Einschnitt erinnern, der viel verändert hat. Aber jetzt ist es wichtig, wieder die Nase rauszustrecken.“

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